Angeklagter schreibt Brief an Opfer und will sich entschuldigen / Frau sagt kurz vor Schluss doch noch aus

Von Lena Müssigmann

Freudenstadt/Tübingen. Der Entführungsprozess steht vor dem Abschluss: Das mit Spannung erwartete psychiatrische Gutachten bescheinigt dem mutmaßlichen Entführer zwar eine Depression, aber keine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat, und gibt Einblick in seine Gedankenwelt.

Ein weißes Blatt Papier, dreimal gefaltet, blaue Handschrift darauf zu erkennen, liegt vor dem mutmaßlichen Entführer auf dem Tisch im Gerichtssaal: ein Brief, gerichtet an das Mädchen, das der 51-Jährige im Mai dieses Jahres entführt hat, wie er vor Gericht gestanden hat. Er wolle sich entschuldigen, heißt es. Die Mutter und der Anwalt des Kindes erlauben, dass sie die Zeilen erhalten darf. "Das tut mir unendlich leid", ließ er gestern erneut über seinen Anwalt im Gerichtssaal mitteilen.

Er habe zum Zeitpunkt der Tat nicht mehr klar denken können, habe völlig irrational gehandelt – so lautet der Tenor dessen, was der Angeklagte selbst im Laufe des Prozesses aussagte. Die Depression, die vom psychiatrischen Gutachter Stephan Bork gestern als mittelschwer eingestuft wurde, sei Auslöser für die Selbstmordgedanken gewesen, die der Angeklagte als Motiv angibt, so Bork.

Als zwingender Auslöser für eine Entführung sei die Krankheit jedoch nicht zu betrachten. Der Mann wusste laut Borks Ausführungen offenbar, was er tat, und er wusste, dass es sich um eine Straftat handelt: Der Psychiater kann weder eingeschränkte Einsichts- noch Steuerungsfähigkeit beim Angeklagten feststellen.

Bork sagte, er habe den Eindruck widerstreitender Emotionen in der Brust des 51-Jährigen. Die depressive Episode enthalte mal eher lebensbejahende Phasen, dann wieder Selbstmordgedanken. "Einerseits gab es Bestrebungen, bei der Entführung zu Tode zu kommen, andererseits sagte eine Stimme in ihm: ›Nein, doch nicht‹."

Dass ihn die Richterin, die ihm den Haftbefehl eröffnet hatte, als sehr gefasst beschrieben hat, erklärt sich Bork als "subjektive Erleichterung, doch nicht erschossen worden zu sein". Einige Monate nach der Tat, als die Depression behandelt war, habe ihm der Angeklagte gesagt: Es sei ihm nun lieber, von der Depression geheilt in Haft zu sitzen, als frei zu sein und weiterhin unter der Krankheit zu leiden.

Weil als Motiv nach wie vor sowohl Geldnot als auch Selbstmordgedanken im Raum stehen, wurde die Vermutung geäußert, der Angeklagte könne auch in dieser Hinsicht widerstreitende Gefühle gehabt haben. "Wenn es klappt, bin ich reich, wenn nicht, dann tot?", vergewissert sich Bork, hält dies aber für abwegig. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit so einer Coolness an den Fall rangegangen ist." Schließlich habe er für die Möglichkeit, dass er das Geld ausgehändigt bekommt, keinen Fluchtplan gehabt. Als vorerst letzte Zeugin hat gestern doch noch die Frau des Angeklagten zum Gesundheitszustand ihres Mannes ausgesagt. Bislang hatte sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Sie bestätigte, wie schon ihre Tochter, das Bild des depressiven Mannes. Ihr Mann habe sich nicht mehr gepflegt, sei nur noch auf dem Sofa gelegen. "Ich habe niemanden mehr eingeladen, weil mir das peinlich war." Sie sei immer seltener zu Hause gewesen. "Ich musste gehen, ich hatte so eine Wut auf den." Seine Selbstmordgedanken konnte sie nur ahnen. Einmal im Streit habe er gesagt, es sei wohl besser, wenn er nicht mehr da wäre. Gesprächsbereit sei er nie gewesen. "Lass mich halt in Ruhe", habe er geschrien und dann "dicht gemacht". Sie selber "hatte einfach die Schnauze voll". In den letzten zwei Wochen vor der Tat habe sie ihn sehr unter Druck gesetzt. "Ich habe gesagt, ich ziehe aus, wenn er nichts unternimmt."