Elias Kowalski Foto: privat

Dirigent setzt sich mit historischen Hintergründen von Musikstücken auseinander: "Militaristische Lobeshymne".

Freudenstadt - Elias Kowalski, 23-jähriger Dirigent des Musikvereins Kirchentellinsfurt (Kreis Tübingen), erregte beim Jahreskonzert große Aufmerksamkeit. Der gebürtige Freudenstädter machte deutlich, dass es sich bei der üblichen Version des Radetzky-Marsches um einen nationalsozialistischen Verehrungsmarsch handelt. Kowalski präsentierte den "Marsch der Märsche" daraufhin in einer von ihm bearbeiteten Originalfassung.

Wie kam es zu der Auseinandersetzung mit dem Radetzky-Marsch?

Als Dirigent übernahm ich die Verantwortung für die Programmauswahl. Inspiriert durch Nikolaus Harnoncourt (1929–2016), Dirigent und Pionier der historischen Aufführungspraxis, setze ich mich mit dem Entstehungshintergrund der Werke auseinander. Als der Musikverein in Kirchentellinsfurt gebeten wurde, den Radetzky-Marsch zu spielen, bin ich auf einen besorgniserregenden Bezug zum Nationalsozialismus gestoßen.

Was haben Sie entdeckt?

Nahezu alle heutigen Interpretationen beruhen auf einer bearbeiteten Fassung von Leopold Weninger. Er war Leiter der NSDAP-Kreismusikstelle Leipzig und einer der einflussreichsten NS-Komponisten. Weninger bearbeitete den Radetzky-Marsch in den 1930er-Jahren so, dass ein militaristischer Verehrungsmarsch für die NS-Ideologie entstand. Norbert Rubey, ein Wiener Musikwissenschaftler und Experte für Strauss-Forschung, hat 1999 eine revidierte Originalfassung – die sogenannte Urfassung – für Sinfonieorchester publiziert.

Hatte das zur Folge, dass seither die Urfassung von 1848 gespielt wird?

Leider nein, und das finde ich sehr bedenklich. Der Radetzky-Marsch wird zum Beispiel traditionell beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker als Zugabe gespielt. Nur einmal war 2001 unter Nicolaus Harnoncourt die Originalfassung zu hören. Obwohl es eine revidierte Originalfassung gibt, hört man in nahezu allen Fällen trotzdem die NS-Fassung des meistgespielten Marsches.

Der Marsch ist für Sinfonieorchester geschrieben worden. Wie sieht es da in der Blasmusik aus?

Es gibt über 30 Bearbeitungen für Blasorchester. Manche orientieren sich an einem Arrangement von Max Schönherr aus den 1950er-Jahren. Da ihm aber noch nicht die Druckvorlage der Urfassung zur Verfügung stand, sind auch diese Arrangements nicht wirklich originalgetreu. Vielen Bearbeitungen liegt die bekanntere NS-Fassung zu Grunde.

Für den Laien ist es schwer, die Unterschiede überhaupt zu erkennen, ist es dann nicht egal, welche Version gespielt wird?

Während die Urfassung transparent und dünn instrumentiert ist, ist die Instrumentation in der NS-Fassung stark verdickt. Außerdem strich Weninger zahlreiche Verzierungen und veränderte das Trio melodisch. Musikalisch gesehen liegen die Unterschiede eher im Detail. Diese feinen Differenzen haben aber eine große Wirkung. Auf der einen Seite steht so ein verspielter, fröhlicher Marsch. Auf der anderen Seite findet sich eine militaristische Lobeshymne, die nur zu dem Zweck umgeschrieben wurde, den Nationalsozialismus zu verherrlichen. Der politisch-ethische Aspekt ist aber der entscheidendere: Die NS-Version zu spielen, bedeutet geschichtsvergessen zu handeln und die Musikentfremdung zu unterstützen. Meiner Meinung nach sollten alle Dirigentinnen und Dirigenten auf die Aufführung der NS-Fassung verzichten.

Überprüfen Sie jedes Musikstück hinsichtlich seiner Bedeutung in der Hitlerzeit?

Mit dem Begriff Hitlerzeit tue ich mich schwer. Es war ja nicht Hitler allein. Sein Wirken war nur durch eine passive Akzeptanz und eine aktive Beteiligung der breiten Masse möglich. Auch in unserer Zeit sind nicht Leute wie Trump, Le Pen oder Gauland die Ursache, sondern Symptom des Problems. Sie nutzen die Stimmungen in der Bevölkerung geschickt für ihre Machenschaften aus. Da ich von jedem Werk den historischen Hintergrund recherchiere, fließt bei älteren Werken natürlich auch eine Beschäftigung mit der NS-Zeit in meine Betrachtungen mit ein.

Was wollen Sie damit bewirken?

Es bereitet mir große Sorgen, wie überwunden geglaubtes NS-Gedankengut in unserer Zeit wieder aufkommt. Trotz relativen Wohlstandes wird die NS-Ideologie in Teilen unserer Gesellschaft wieder lebendig. Ich sehe gerade auch meine junge Generation in der Pflicht, sich mit unserer Vergangenheit aktiv auseinanderzusetzen. Nur so können wir aus der Geschichte lernen und einem Rechtsruck der Gesellschaft entgegenwirken. Dirigentinnen und Dirigenten, Musikerinnen und Musiker, sowie das Konzertpublikum sollen für den historischen Hintergrund von Musik sensibilisiert werden. Musik ist in diesem Sinne immer auch politisch und kann meines Erachtens nicht ohne seinen Entstehungshintergrund betrachtet werden. Wohin Geschichtsvergessenheit führt, sehen wir leider in den letzten Jahren verstärkt. Gerade auch mit dem geschichtlichen Hintergrund der Blasmusik müssen wir hier gemeinsam aufpassen. Die Sensibilisierung schärft unser Bewusstsein, fördert den gemeinsamen Austausch und stärkt damit unserer Gesellschaft gegen undemokratische Bewegungen den Rücken.