Interview: Gespräch mit der scheidenden Jugendamtsleiterin über falsche Vorstellungen und das Dilemma der Entscheidung

Freudenstadt. Sie war fast 40 Jahre im Dienst für die "Sorgenkinder" im Landkreis Freudenstadt, jetzt ist sie im Ruhestand: Charlotte Orzschig. Wie sprachen mit der scheidenden Leiterin des Jugendamts über das Dilemma von Entscheidungen, falschen Erwartungen der Öffentlichkeit und die Frage, wie man mit all dem Kummer selbst fertig wird.

Haben Sie selber Kinder?

Nein.

Hat Ihnen das geholfen bei der Arbeit oder sie eher behindert?

Diese Frage ist mir im Berufsleben oft begegnet, meist als Kritik. Gegenfrage: Würden Sie sich nur von einem Arzt operieren lassen, der selbst Krebs hat? Ich kann selbst nicht beurteilen, wie mein Zugang in bestimmten Fällen gewesen wäre, wenn ich selbst Kinder hätte. Eigene Kinder zu haben ist in meinem Beruf jedoch keine ausreichende Qualifikation als solche, um die passende Hilfe anbieten zu können.

Sie wirken stets sachlich und kontrolliert. Täuscht das?

Nein, das täuscht nicht. Es hilft, zu verstehen, warum Dinge so sind wie sie sind. Eltern, die ihre Kinder misshandeln oder missbrauchen, erlebten in der eigenen Kindheit sehr oft ähnliche Übergriffe. Das soll keine Entschuldigung für ihr Handeln sein. Allerdings ist es wichtig zu wissen, um Muster erkennen und verändern zu können. Sachlichkeit ist ein Weg, mit dem Leid klarzukommen, das wir oft erleben. Und es nützt niemandem, wenn wir emotional nur mitfließen. Das Berufsfeld ist emotional aufgeladen genug.

Gibt es Fälle, die Sie noch beschäftigen?

Ja, es gibt Fälle, die mich irgendwann wieder eingeholt haben. Es kommt vor, dass sich junge Menschen einen Termin bei mir geben ließen. Ein Teil davon wollte mir sagen, dass sie es geschafft haben, ihren Weg im Leben zu finden. Andere wollten wissen, warum wir sie damals nicht als Kind aus der Familie geholt haben, und warum wir Entscheidungen so getroffen haben, wie wir sie getroffen haben. Das dürften so zwei Hände voll von Fällen sein.

Nach 36 Jahren im Job sind ein Teil der Kinder, die Ihr Amt betreut hat, längst erwachsen. Verfolgen Sie deren Lebenswege bisweilen?

Ich sehe sie im Stadtbild. Manche Grüßen mich, manche nicht. Und ich sehe dann, wie sie sich im Rahmen der Möglichkeiten entwickelt haben. Wenn sie sich gut entwickelt haben, ist es ein Erfolg, wie auch immer man "gut" definieren mag. Als Jugendamt helfen wir, ohne vorab eine Prognose zu erstellen, ob unsere Arbeit etwas nützt oder nicht. Das ist unser Auftrag. Unser Ziel ist es, Hilfe zu geben, den Kindern und ihren Eltern, damit sie selbstständig leben können. Wir haben da andere Standards als das, was gemeinhin gesellschaftliche Norm genannt wird. Das kollidiert dann oft.

Können Sie das erläutern?

Uns vom Amt hat im Zweifel nicht zu interessieren, ob ein Kinderbett bezogen ist oder nicht, so lange das Kind ein Bett hat. Ein bezogenes Bett ist sozusagen normal. Natürlich versuchen wir, Eltern dahin zu bewegen. Aber wer gibt vor, was normal ist? Normen ändern sich. Männer mit zwei Ohrringen und bunte Haare sind heute weitgehend von der Öffentlichkeit akzeptiert. Das war nicht immer so. Bei den eigenen Mitarbeitern habe ich jedoch immer darauf geachtet, dass sie sozusagen normal aussehen, nicht komplett gepierct oder tätowiert sind oder Dreadlocks tragen. Nicht wegen der Tätowierung als solcher. Allerdings ist dies für mich ein Hinweis darauf, dass die Person mehr mit ihrer eigenen Identität beschäftigt ist als mit ihrem Auftrag. Mitarbeiter des Jugendamts sollten jedoch eine eher bereits gefestigte Persönlichkeit haben und nicht so sehr noch selbst auf der Suche sein.

Das Amt hat sich im Laufe Ihrer Zeit mehr als verdoppelt, von der Personenzahl her. Sind die Zustände in Familien schlimmer geworden, oder sind die Ansprüche gestiegen?

Ich glaube, dass es früher schlimmere Verhältnisse gab als heute. Die Erziehungsvorstellungen waren andere. Kinder duften zu Arbeit eingesetzt werden, und die Prügelstrafe war ein gesellschaftlich akzeptiertes Erziehungsmittel. Der Staat hat die Standards verändert in der Beurteilung dessen, wann Eltern ihre Kinder nicht richtig versorgen. Bürger machen häufiger auf Notlagen aufmerksam. Entsprechend wachsen die Aufgaben für die Jugendämter. An unserem Ziel hat sich jedoch nichts geändert. Unser Auftrag ist es, darauf zu achten, das die Mindeststandards nicht unterschritten werden. Die Erziehung bleibt im Grundsatz Aufgabe der Eltern. So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch. Dementsprechend gibt es auch keinen rechtlichen Anspruch auf maximale Förderung von Kindern durch den Staat, kein Grundrecht auf ein Studium. Manchmal habe ich den Eindruck, die Politik verliert hier das Augenmaß. Eltern haben nun mal auch bis zu einem gewissen Grad das Recht auf eine schlechte Erziehung, wobei meiner Erfahrung nach auch "schlechte" Eltern immer das Beste für ihre Kinder wollen.

Bei dem tragischen Unfall am Samstag hat eine sechsköpfige Familie aus dem Kreis ihre Mutter verloren. Kann das Jugendamt in einer solchen Lage helfen?

Ja, klar. Es ist furchtbar, wenn so etwas passiert. Wenn Bedarf da ist und Unterstützung gewünscht wird, können wir Hilfen aktivieren. Dass ein Elternteil plötzlich alleine mit den Kindern da steht, kommt oft vor. In der Regel sind es keine solchen Schicksalsschläge, sondern Scheidung, Trennungg oder Überforderung. Wir wollen der Familie die Unterstützung geben, die sie benötigt.

Bei Ihrer Verabschiedung vor dem Kreistag haben Sie gesagt, im Jugendamt müssten bereits junge Menschen weitreichende Entscheidungen treffen. Sitzt man ständig auf der Anklagebank von Justiz und Gesellschaft?

Es hat sich in der Gesellschaft vom Anspruch her vieles verändert. Wenn etwas passiert, taucht sofort die Frage auf: Wer ist schuld ? Das ist in vielen helfenden Berufsgruppen der Fall, auch bei Polizei, Ärzten oder Feuerwehren, die plötzlich angegriffen werden. So ändert sich der Zeitgeist. Bei uns ist sofort der Staatsanwalt auf dem Plan und ermittelt wegen unterlassener Hilfeleistung, vor allem wenn sich herausstellt, dass wir in einer Familie bereits tätig gewesen sind. Meistens wird in der Gesellschaft auch unser Auftrag falsch verstanden. Unser Ziel ist es zunächst, nicht gegen den Willen der Eltern tätig zu werden, sondern im Optimalfall mit ihrem Willen. Wenn wir uns über den Elternwillen hinwegsetzen, dann brauchen wir eine richterliche Einwilligung dazu. Ich empfinde es als hohes Gut der Demokratie, dass es noch eine Instanz gibt, die auch unsere Arbeit kontrolliert und bisweilen auch gegen unsere Auffassung entscheidet.

Haben Sie im Lauf der Zeit gravierende Fehlentscheidungen getroffen, die sie im Nachgang gerne rückgängig machen würden?

Es ist müßig, darauf eine Antwort zu finden. Heute ist heute. Möglicherweise würde man Fälle mit der jetzigen Erfahrung anders beurteilen als vor vielen Jahren. Es bringt jedoch nichts, darüber zu grübeln. Ohnehin weiß man nie, wie sich Dinge entwickeln, auch dann nicht, wenn das Amt eingreift. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem ein Kind in einer Familie zu Tode gekommen ist. Im Prozess hat sich herausgestellt, dass es ein Unfall war, und der Vater das Kind nicht getötet hat. Wir hätten es also nicht verhindern können.

Würden Sie Ihren Job wieder wählen?

Mit dem Wissen von heute würde ich vielleicht Jura studieren. Aber nicht, weil ich meine Berufswahl bereue. In meinem Beruf habe ich alles erreicht, was ich erreichen konnte. Rechtswissenschaften würden mich darüber hinaus interessieren. Aber wer weiß, was dann passiert wäre. Vielleicht war es besser so.

Was stellen Sie mit Ihrer neuen Freiheit an?

Das Übliche: Die Hobbys etwas mehr pflegen, die man in den Jahren eines durchgetakteten Lebens vernachlässigt hat. Das Wichtigste für mich: alles ruhiger angehen lassen und langsamer machen. Alles andere wird sich zeigen.

 Die Fragen stellte Volker Rath