Um "Lebenslänglich" herumgekommen: Der Angeklagte Sergej W. (rechts) steht im Gerichtssaal des Landgerichts neben seinem Anwalt Carl Heydenreich. Foto: Kusch

Gericht wertet Bomben-Anschlag als 28-fachen Mordversuch. Sergej W. will an Selbstmord gedacht haben. Mit Kommentar  

Dortmund/Freudenstadt - Der Angeklagte Sergej W. trägt ein weißes Hemd und eine dunkle Hose, das Gesicht ist bleich, die Haare sind schulterlang. Still und ergeben lässt er das Blitzlichtgewitter über sich ergehen, die Handschellen hat man ihm erst kurz zuvor abgenommen. Dann beginnt der Richter zu sprechen. Der eigentliche Urteilsspruch dauert lediglich ein paar Sekunden: 14 Jahre Haft wegen 28-fachen versuchten Mordes. Sergej W., der junge Russe aus Freudenstadt, darf sich wieder setzen. Sein Gesicht bleibt leer und verschlossen, er verzieht keine Miene.

Es ist das Ende eines langen Prozesses; die Zuschauerbänke sind voll besetzt. Die drei selbstgebastelten Sprengsätz auf den BVB-Teambus im April 2017 – nicht nur die Fußballwelt war seinerzeit erschüttert. "Da steckte gewaltige kriminelle Energie dahinter", meint eine ältere Frau stellvertretend für die vielen Fans des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund unter den Anwesenden.

Ein verletzter Spieler, ein verletzter Polizist – die unmittelbare Bilanz war eher glimpflich ausgefallen. Eine Haftstrafe von unter zehn Jahren hatte denn die Verteidigung gefordert, der gelernte Elektrotechniker aus dem Schwarzwald habe ja gar nicht töten wollen, sondern lediglich auf einen Crash der BVB-Aktien spekuliert – dazu habe er sich kurz vor der Tat reichlich mit Obligationen eingedeckt. Auch der junge Mann hatte bereits kurz nach Prozessbeginn gestanden, die Tat begangen zu haben – freilich nur um Angst und Schrecken zu verbreiten.

Staatsanwaltschaft plädiert auf Mordversuch

Das jedoch sah die Staatsanwaltschaft ganz anders. Sie plädierte auf vielfachen Mordversuch – und hatte Lebenslänglich verlangt. Nur bei schweren Schäden für die Spieler hätte es einen echten Fall der Aktie gegeben. Genau darauf habe Sergej W. gesetzt.

Richter Peter Windgätter ist ein kräftiger Mann mit Schnauzbart und rauer Stimme. Immer wieder muss er seine gut einstündige Urteilsbegründung unterbrechen, ein lästiger Hustenreiz peinigt ihn. "Unter dem Strich gehen wir davon aus, dass der Angeklagte mit Tötungsabsicht gehandelt hatte", schließt er sich den Ausführungen der Anklage an. Nur weil die drei Sprengkörper, in die Sergej W. jeweils 30 Nägel verpackt habe, nicht richtig explodiert seien, habe es keinen größeren Schaden gegeben. "Wir halten die Einlassung des Angeklagten in vielen, wenn nicht in allen Punkten für widerlegt."

Es war der 11. April 2017, als die Bomben hochgingen. Drei Streubomben, jeweils mit Dutzenden Nägeln bestückt, waren hinter einer Hecke versteckt. Kaum war der BVB-Bus samt Spielern, Ersatzspielern sowie mit Trainer Thomas Tuchel vom Teamhotel "l’Arrivée" zum Champions-League-Heimspiel gegen AS Monaco ins Signal-Iduna-Park gestartet – da detonierten die Bomben. Der spanische Innenverteidiger Marc Bartra – heute nicht mehr beim BVB – wurde am Unterarm verletzt, ein Polizist, der dem Bus im Motorrad voranfahren sollte, erlitt ein Knalltrauma.

Gleich wegen mehrerer Gesichtspunkt habe es sich um ein "außergewöhnliches Verfahren" gehandelt, meint der hüstelnde Richter in seinen Ausführungen. Außergewöhnlich, was die Tatausführung angehe, außergewöhnlich aber vor allem auch, was das Motiv und die "potenziellen Opfer" angehe. "Gleichwohl haben wir es immer wie ein ganz normales Verfahren behandeln wollen."

Eingehend und durchaus einfühlsam geht Windgätter auf die Persönlichkeit des Täters ein. Mit 13 Jahren sei er aus Russland gekommen, die Mutter sei Russin, der Vater deutschstämmig. In der Schule hab es Sergej W. anfangs schwer gehabt, doch dann sei er zur Bundeswehr gegangen. Schon während dieser Zeit habe er sich mit Aktien befasst. Nach der Bundeswehr wurde er zum Elektrotechniker ausgebildet, sogar mit Auszeichnung, Sergej W. habe eine Arbeitsstelle gehabt, im Schichtdienst habe er zwischen 3500 bis 3700 Euro brutto im Monat verdient – das klingt fast wie eine gelungene Integration.

Sprengsätze waren laut Sachverständigen nicht kontrollierbar

Dennoch habe er an Ängsten gelitten, habe zeitweise Antidepressiva genommen, schildert Windgätter. Sergej W. selbst hatte nach seinem Geständnis erklärt, er sei kurz vor der Tat von Selbsttötungsgedanken gequält worden; auch das Geld, das er durch Aktienspekulationen gewinnen wollte, habe er nicht für sich selbst behalten, sondern seinen Eltern geben wollen.

Vielfacher Mordversuch oder lediglich Herbeiführung einer Sprengstoffdetonation mit Körperverletzung – das war die heikle Frage, die praktisch seit Prozessbeginn vor elf Monaten über dem Verfahren schwebte. Für das Urteil bedeutete dies: Lebenslänglich oder lediglich eine mehrjährige Haftstrafe. Immer wieder beschwor Sergej W., er habe die Bomben eigenhändig und bewusst so gebastelt, dass sie nur eine eher geringe Durchschlagskraft hatten; außerdem sei die Explosion nicht direkt auf den Bus ausgerichtet gewesen. Noch am vergangenen Donnerstag, dem letzten Prozesstag vor dem Urteil, hatte sich der Angeklagte zu einem kurzen Satz der Reue durchgerungen: "Ich möchte mich bei allen entschuldigen."

Doch mehrere Sachverständige hatten betont, die selbstgebauten Sprengsätze seien letztlich nicht kontrollierbar gewesen, es hätte möglicherweise einen deutlich größeren Schaden geben können.

Auch Richter Windgätter schenkte den Einlassungen des Angeklagten, lediglich "Angst und Schrecken" verbreiten zu wollen, keinen Glauben. Bereits im Oktober 2016 habe der Freudenstädter, der zuletzt zeitweise in Rottenburg (Kreis Tübingen) wohnte, wo er zehn Tage nach den Tat auch gefasst wurde, den "Entschluss zur Aktion" gefasst. Mehrmals sei Sergej W. auch an den Tatort gereist, um die Lage zu sondieren. Zudem habe er durch Reisen nach Belgien eine falsche Fährte legen, den Verdacht erwecken wollen, Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) steckten hinter der Tat.

Sergej W. habe die Sprengsätze just in dem Augenblick gezündet, als der Mannschaftsbus passierte. Er habe mindestens mit der Möglichkeit rechnen müssen, "dass Menschen im Bus zu Tode kommen". Oder er habe das gar "billigend in Kauf genommen". Oberstaatsanwalt Carsten Dombert meinte, er sei mit dem Urteil der Richter "nicht unzufrieden". Ähnlich äußerte sich auch Verteidiger Carl Heydenreich. Der Angeklagte, der nach dem Urteil wieder in seine Zelle geführt wurde, sagte kein Wort.

Kommentar: Große Bühne

Von Volker Rath

14 Jahre Haft   wegen versuchten  28-fachen  Mordes –  das Urteil gegen   Sergej W., der als "BVB-Bomber" Schlagzeilen gemacht hat, ist schmerzhaft. Und angemessen.

Es hätte auch lebenslänglich sein können. Aber das wäre dem Fall nicht gerecht geworden. Wie es aussieht, beging der junge Mann aus Freudenstadt den Anschlag nur vordergründig aus Habgier.   Geld wäre eher Mittel zum Zweck gewesen. Sonst hätte W. nicht eine über Monate hinweg akribisch geplante Wahnsinnstat verübt und dafür die  große Bühne gewählt.

Das Motiv ist ein anderes. Da wollte einer seine Fähigkeiten beweisen – sich selbst. Das passt zu den Schilderungen ehemaliger Klassenkameraden. Sie zeichnen das Bild eines talentierten, aber  komplexbehafteten Sonderlings.  Der Anschlag war nicht genial. Er war krank. W. gehört erst mal aus dem Verkehr gezogen – und in Therapie.