Wer sein Ticket nicht abstempelt, kann auch ins Gefängnis kommen. Foto: dpa/Michele Danze

Die Politik debattiert kontrovers darüber, das Schwarzfahren zu entkriminalisieren. Eine Initiative wird schneller tätig – und hilft oft verzweifelten Menschen mittels Spenden auf unkonventionelle Weise.

So ganz genau weiß Yvonne S. gar nicht, warum sie hier ist. Vor dem Amtsgericht in Stuttgart Bad Cannstatt wird gleich der Fall aufgerufen, bei dem Yvonne S. die Angeklagte ist. Schwarzfahren, das steht fest. Aber wann genau? Das weiß die Frau nicht mehr. Im Prozess wird es die Staatsanwältin verlesen.

 

Drei mal war es, im Sommer 2021, immer in der S-Bahn auf dem Weg nach Ludwigsburg. Das war die Zeit, als sie ihren Job in der Gastronomie verloren hatte. Corona-Lockdown. Weil sich in ihrem Vorstrafenregister ein Dutzend weiterer Verurteilungen gleicher Art finden, beantragt die Staatsanwaltschaft eine Gefängnisstrafe.

Um den Gang hinter Gittern wird Yvonne S. herumkommen. 80 Tagessätze zu je 50 Euro wird am Ende das Urteil lauten. Für die Frau, die gerade wieder einen Job gefunden hat und 1500 Euro als Nettogehalt angibt, ist das heftig. Noch heftiger ist es tausenden von anderen Schwarzfahrern ergangen. Sie sitzen im Gefängnis. Nicht, weil sie zu einer Haftstrafe verurteilt worden sind, so wie Räuber, Mörder und andere Schwerkriminelle. Jahr für Jahr bekommen Tausende von Menschen eine Geldstrafe wegen Schwarzfahrens, können diese aber nicht bezahlen. Dann kommt es zur Ersatzfreiheitsstrafe. 80 Tagessätze würden 80 Tage Haft bedeuten, danach ist die Schuld getilgt.

Justizminister wollen Änderungen

Über den Sinn dieses Vorgehens ist eine politische Diskussion entbrannt. Die Justizminister aus Bund und Ländern wollen Schwarzfahren entkriminalisieren. Im November haben sie beschlossen, tätig zu werden. Bis es ein Ergebnis geben wird, werden sich noch viele Gefängnistüren hinter Schwarzfahrern schließen. Und öffnen – denn bis zu einem politischen Ergebnis wollen nicht alle warten. Die private Initiative „Freiheitsfonds“ hat sich zum Ziel gesetzt, genau diesen Menschen zu helfen. Und weil die Initiative von einem Journalisten geleitet wird, der weiß, wie man mit Wörtern umgeht, hat sie diesen Donnerstag zum Tag der „größten Gefangenenbefreiung der deutschen Geschichte“ erklärt.

Die Befreiung geschieht nicht mit Stemmeisen und Fluchthubschrauber, sondern per Banküberweisung. Wer die Strafe letztendlich bezahlt, deretwegen jemand seine Ersatzhaft verbüßt, das ist dem Staat egal. Die in Berlin angesiedelten Aktivisten haben daher Geld gesammelt, „mindestens 56 Menschen“, so Arne Semsrott gegenüber unserer Zeitung, werden alleine an diesem Donnerstag in die Freiheit entlassen. Drei davon aus dem Südwesten, so der Initiator des „Freiheitsfonds“ – eine Frau in Schwäbisch Gmünd und zwei Männer in Mannheim.

Auf dem weg zum kranken Opa

Vor dem Amtsgericht in Bad Cannstatt wird der nächste Fall von Schwarzfahren aufgerufen. Wieder eine Frau, wieder mit entsprechende Vorgeschichte. Ob es nicht billiger sei ein Ticket zu kaufen als die 60 Euro Strafgebühr zu berappen, und zusätzlich das Gerichtsverfahren mit all seinen Kosten und Folgen. „Wenn man das Geld nicht hat, dann hat man es halt nicht“, sagt die junge Frau. Vom 1. Januar an wird sie wieder eine Arbeit haben, als sie bei den Fahrten zum kranken Großvater in der S-Bahn erwischt wurde, da hatte sie nach eigenen Angaben nicht einmal Hartz IV. Ämterchaos. Auch sie wird mit einer Geldstrafe davon kommen, 60 Tagessätze zu je 10 Euro.

Es ist ein Fall wie aus dem Lehrbuch. Die Initiative „Freiheitsfonds“ hat bundesweit recherchiert. 87 Prozent der Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen Schwarzfahrens absitzen, sind arbeitslos, 15 Prozent ohne festen Wohnsitz, ebenso viele sind suizidgefährdet. Oft kommen mehrere Punkte zusammen. Für Arne Semsrott und sein Team an Ehrenamtlichen gehören diese Menschen nicht ins Gefängnis. Eine Ansicht, die viele Gefängnisse teilen: die meisten Menschen, die sich bei dem Fonds darum bewerben können, frei gekauft zu werden, machen das nicht selber. „Die Hinweise kommen aus den Haftanstalten“, sagt Semsrott. Und das nicht zu knapp: mehr als 600 Menschen hat der Fonds binnen eines Jahres frei gekauft, mehr als eine halbe Millionen Euro an den Staat überwiesen.

Viele Vorstrafen und kein Therapieplatz

Derweil sitzt in Bad Cannstatt die dritte Angeklagte wegen Schwarzfahrens auf der Anklagebank. Die Vorstrafenliste ist lang, der Therapieplatz nahe. Auch sie bekommt eine Geldstrafe. Die Schadenssumme, die der Anklage zugrunde liegt, beträgt 20,20 Euro. Es war die mit Abstand höchste an diesem Vormittag. Bei solchen Beträgen halte er eine Haftstrafe für unverhältnismäßig, sagt der Richter. Wenn die Geldstrafe aber nicht bezahlt wird, dann droht unweigerlich der Gang hinter Gittern.