Mammutprozess neigt sich dem Ende zu. Opfer soll Drogen konsumiert haben.
Freiburg - In Freiburg geht der Mammutprozess um die mutmaßliche Gruppenvergewaltigung einer 18-Jährigen zu Ende.
Sie will mit einer Freundin feiern gehen, doch dann wird aus der Party- eine Horrornacht: An einem Samstagabend Mitte Oktober 2018 soll die damals 18 Jahre alte Anne B. (Name geändert) in einem Gebüsch am Rande einer Techno-Party in der Diskothek Hans-Bunte-Areal im Freiburger Norden von einer Gruppe überwiegend syrischer junger Männer über Stunden hinweg wieder und wieder vergewaltigt worden sein. So sieht es die Staatsanwaltschaft.
Timo P., der einzige deutsche Tatverdächtige in dem Fall und einer von zwei Angeklagten, die vor Gericht zu den Tatvorwürfen Stellung bezogen haben, spricht hingegen von freiwilligem Sex: Wie besessen sei die junge Frau über ihn hergefallen, erklärt der mehrfach vorbestrafte Mann. Ähnlich äußern sich bei ihren Vernehmungen auch andere der insgesamt elf Angeklagten. Nun wird nach 13 Monaten ein Urteil erwartet in dem Fall, der bundesweite Schlagzeilen und eine heftige politische Debatte nach sich gezogen hat.
Junge Frau soll am Tatabend erstmals die Droge Ecstasy konsumiert haben
Etwa ein Promille Alkohol im Blut und eine hochdosierte Ecstasy-Tablette soll Anne B. zur Tatzeit intus gehabt haben. Ecstasy ist ein Rauschmittel, das unter anderem den Instinkt für gefährliche Situationen hemmt. Die 18-Jährige soll die Droge am Tatabend zum ersten Mal im Leben ausprobiert haben. Die Freundin, mit der sie unterwegs ist, hat bereits Erfahrungen damit. Verkauft haben soll die Pille der Angeklagte Alaa al M., der zusammen mit seinem Freund Majd H. im Hans-Bunte-Areal gewesen ist. Majd H. soll die arglose 18-Jährige vor die Tür der Diskothek gelotst haben, angeblich um ihr ein Tattoo zu zeigen. Dann beginnt laut Anklage das mehrstündige Martyrium der jungen Frau: Majd H., dem derzeit noch ein weiterer Prozess wegen eines anderen Vergewaltigungsvorwurfs bevorsteht, soll die Frau gepackt, teilweise entkleidet und dann vergewaltigt haben. Im Anschluss soll er seinen Kumpel Alaa Al M. informiert haben, dass da eine Frau im Gebüsch liege, mit der man Sex haben könne. Laut Anklageschrift gehen Timo P. und die weiteren Angeklagten nacheinander zu der Frau und vergewaltigen sie ebenfalls. Diverse Spuren an der 18-Jährigen, die am Mittag nach dem Übergriff in Waldkirch (Kreis Emmendingen) Anzeige erstattet, belegen aus Sicht von Polizei und Staatsanwaltschaft die Übergriffe.
Nach der Tatnacht nimmt die Polizei binnen weniger als zwei Wochen zunächst acht Tatverdächtige fest: Sieben junge Syrer und den deutschen Timo P.. Drei weitere junge Männer werden in den Wochen darauf verhaftet. Insgesamt sitzen elf Verdächtige zwischen 18 und 30 Jahren in Untersuchungshaft. Ein möglicher zwölfter Verdächtiger, nach dem mithilfe eines Phantombildes gesucht wurde, konnte bis heute nicht dingfest gemacht werden.
Nach den ersten Verhaftungen wird bekannt: Der damals 21 Jahre alte Hauptverdächtige Majd H. ist kein unbeschriebenes Blatt: Er ist den Behörden aus knapp 30 Ermittlungsverfahren wegen Drogen-, Gewalt- und Sexualdelikten als Intensivtäter bekannt und bereits zur Festnahme ausgeschrieben. Eine Tatsache, die bundesweit für Empörung sorgt: Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU) gerät angesichts der Frage, warum Majd H. nicht längst in Haft sitzt, unter Druck. Bemerkenswert: Sein Ministerium und die Freiburger Polizei nennen unterschiedliche Gründe dafür, dass der junge Syrer noch auf freiem Fuß ist: Das Ministerium spricht von "ermittlungstechnischen Gründen", die Behörden in Freiburg räumen indes ein, dass man nicht genau weiß, wo sich der junge Mann aufhält.
Fall löst politische Diskussionen über Sicherheit und Flüchtlinge aus
Doch der Fall schlägt weitere politische Wellen: In Freiburg nutzt die AfD Ende Oktober 2018 das Thema für eine fremdenfeindliche Kundgebung mit rund 400 Teilnehmern, zu der fünf Mal so viele Gegendemonstranten kommen. Freiburgs parteiloser Oberbürgermeister Martin Horn handelt sich Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen im Netz ein, als er vor pauschalen Vorverurteilungen von Geflüchteten warnt. Kurzzeitig deaktivierte der OB deshalb sogar seine Konten in den Sozialen Medien. Und Freiburgs damaliger Polizeipräsident Bernhard Rotzinger gerät für den Ratschlag in die Kritik, dass Frauen sich nicht durch Alkohol oder Drogen wehrlos machen sollten.
Im November 2018 treten Horn, Strobl und Rotzinger vor die Presse und kündigen an, dass die Stadt und das Land ihre gemeinsame Sicherheitspartnerschaft fortsetzen. Strobl betont, das Land werde "Freiburg nicht im Stich lassen" und die Stadt bekomme mehr Polizisten und eine Außenstelle seines Sonderstabs "Gefährliche Ausländer" zugewiesen. Horn sichert zu, den in der Stadt lang umstrittenen Kommunalen Ordnungsdienst auszudehnen.
Unterdessen beginnen am Landgericht Freiburg die Vorbereitungen auf ein Gerichtsverfahren mit bis dahin ungekannten Ausmaßen in der Stadt: Die elf Verdächtigen, die alle in unterschiedlichen Gefängnissen im Land einsitzen, sollen gleichzeitig vor Gericht gestellt werden. Dafür muss der größte Saal im Gerichtsgebäude umgebaut werden. Mitte 2019 beginnt das Verfahren unter großem öffentlichen und medialen Interesse. Die Verteidigerin von Alaa al M. und der Anwalt von Majd H. sorgen mit pauschalen Attacken gegen die angeblich vorverurteilende Berichterstattung über ihre Mandanten und Details über den angeblich freiwilligen Sex, den die 18 Jahre alte Nebenklägerin in dem Verfahren von ihren Mandanten eingefordert habe, für Schlagzeilen. 27 Verhandlungstage mit knapp 50 Zeugen und diversen Gutachtern sind zunächst vorgesehen. Das Urteil soll noch vor Weihnachten 2019 fallen.
Doch schnell zeigt sich, dass das nicht klappen wird: Kaum ein Verhandlungstag kann wegen der langen Anfahrten der Angeklagten pünktlich beginnen. Während Gutachter in ihren Aussagen die These bestärkten, dass die junge Frau wehr- und hilflos zur Tatzeit gewesen ist, machen diverse Zeugen aus dem Umfeld der Angeklagten teils widersprüchliche Aussagen.
Anne B. wird in einer Videoschaltung nichtöffentlich vernommen. Drei Monate nach Prozessbeginn wird zudem klar, dass drei der elf Angeklagten nur vom Hörensagen belastet werden und dass es von ihnen keine DNA-Spuren am Opfer gibt. Sie kommen im Herbst 2019 auf freien Fuß und werden nun wohl allenfalls noch wegen Drogenbesitz und unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Ein weiterer Angeklagter kommt später gegen Meldeauflagen frei, bevor im März 2020 der Prozess wegen der Corona-Pandemie unterbrochen werden muss. Seit Mai wird er in einer großen Konzerthalle, dem Paulussaal am Dreisamufer in der Freiburger Innenstadt, fortgeführt.
Angeklagte wirken im Verfahren unbeteiligt und flirten mit ihren Freundinnen
Dort werden an diesem Donnerstag nach 45 Prozesstagen die Urteile ergehen. Zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Nebenklage sowie einem Teil der Verteidiger ist es emotional hoch hergegangen. Außerdem werden im Prozess erschütternde Details über die Tatnacht publik.
Die Prozesstage sind eine logistische Mammutaufgabe: Für jeden der Angeklagten, die im Gerichtssaal überwiegend unbeteiligt wirken, mit ihren Freundinnen im Publikum flirten oder teilweise auch rüpelhaft und beleidigend auftreten, müssen für den Transport aus der Untersuchungshaft jeweils zwei Justizbeamte bereitgestellt werden. Dazu kommen zahlreiche Wachleute im und rund um das Gericht. Insgesamt werden acht Sachverständige und 51 Zeugen, darunter 19 Polizisten, in dem Verfahren gehört. Die Höhe der Verfahrenskosten ist noch nicht bezifferbar. Allein die Anwaltskosten dürften bei rund 200.000 Euro liegen.
Die Staatsanwaltschaft hat für die acht mutmaßlichen Vergewaltiger der jungen Frau bis zu fünfeinhalb Jahren Haft gefordert, Opferanwältin Christiane Steiert sogar bis zu sechs Jahren und neun Monaten. Sämtliche Verteidiger haben auf Freispruch oder hilfsweise milde Haftstrafen von nicht mehr als drei Jahren plädiert.
Von Anne B. weiß man mittlerweile, dass die Tatnacht sie so stark traumatisiert hat, dass sie zuletzt nicht mehr vernehmungsfähig gewesen ist.