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Ehemaliger Betreuer muss sich wegen Kindesmissbrauchs verantworten. 330 sexuelle Übergriffe.

Freiburg/Staufen - Der 42-jährige gelernte Krankenpfleger Christian L. muss sich seit Montag vor dem Landgericht Freiburg verantworten. Der Vorwurf: sexueller Missbrauch von Kindern in 330 Fällen.

Zu Beginn des Verfahrens wird bekannt, dass der Mann im vergangenen September ein Teilgeständnis abgelegt hat. Mindestens vier Jungs, die er zum Teil durch seine Tätigkeit als Betreuer bei den evangelischen Pfadfindern in Staufen (Kreis Breisgau-Hochschwarzwald) sowie im Umfeld des Historien-Spektakels "Stages" in Staufen kennengelernt hat, sollen dem Mann seit etwa dem Jahr 2010 zum Opfer gefallen sein. Die Kinder waren damals 7 bis 14 Jahre alt. Er sitzt seit Februar 2019 in Untersuchungshaft. Dort lebt er nach eigenen Angaben "in ständiger Angst" vor möglichen Übergriffen durch seine Mitgefangenen.

Es ist nicht der erste Missbrauchsprozess, dem der Verdächtige sich stellen muss: Bereits im Jahr 2004 wurde ein Verfahren gegen den hoch aufgeschossenen, hageren Angeklagten geführt.

Das Verfahren endete im Jahr 2007 mit einem Freispruch in der Berufung. Auch damals soll es bei den Staufener Pfadfindern zu Übergriffen gekommen sein. Dennoch wurde der Angeklagte, der bereits als Jugendlicher in Jugendgruppen engagiert war, 2007 auf Initiative der Gemeinde und ohne jegliche Auflagen wieder bei der Kirche eingestellt.

Gespräche über den Vorwurf des Kindesmissbrauchs oder Auflagen habe es durch die Kirche nicht gegeben. Er habe, wie schon zuvor, als Gruppenleiter Grundschulkinder betreut. Das sei "für alle gut" gewesen damals, erklärt der Angeklagte am Montag. Der damals zuständige Pfarrer soll am 5. Februar vor Gericht als Zeuge vernommen werden.

Hinweise auf Fehler bei der Kirche, für die der Mann arbeitete, gebe es nicht, sagte Staatsanwältin Nikola Novak. Es werde daher nicht gegen die Kirche ermittelt. Nach Bekanntwerden des Falls hatte die evangelische Kirche nichtsdestotrotz angekündigt, die Fälle möglichst schnell aufklären zu wollen und daraus Lehren zu ziehen. Ergebnisse wurden bislang nicht bekannt. Von 1999 bis 2011 war der Kirchenmitarbeiter der Anklage zufolge mit drei Jahren Unterbrechung Gruppenleiter der evangelischen Pfadfindergruppe in Staufen.

Schlaksiger Typ gilt bei den Eltern als vertrauenswürdig

Seinen Opfern gegenüber soll sich Christian L. als Ersatzvater inszeniert haben und ihnen vermittelt haben, dass sexuelle Handlungen bis hin zur Vergewaltigung eine ganz normale Sache seien. "Er manipulierte die Kinder so, dass sie dachten, sie selbst hätten den Missbrauch gewollt", sagt Staatsanwältin Novak in ihrer Anklageschrift. Bei den Eltern galt der schlaksige Typ mit den halblangen, dunkelblonden Haaren als beliebt und vertrauenswürdig und engagiert sich beispielsweise als kostenloser Nachhilfe- und Gitarrenlehrer. Auch bei einer bekannten Artistentruppe aus Breisach (Kreis Breisgau-Hochschwarzwald) war der Angeklagte zeitweise engagiert.

Mit der Mutter eines der Buben geht er zudem eine Beziehung ein. Vermutlich um leichteren Zugriff auf das Kind zu bekommen. Es war, sagt Christian L. am Montag, neben ein paar Affären die einzige längere Beziehung zu einer Frau in seinem Leben. Bei einem weiteren Jungen ist der Kontakt zur Familie des Opfers so eng, dass der Angeklagte sogar Taufpate seines Opfers wird: Der Junge sei das "Lieblingskind" des Angeklagten gewesen, erklärt Novak. Es habe "Schweigegelübde und Liebesschwüre" vonseiten des Täters gegenüber dem Kind gegeben.

Der Prozess, der in zwei Wochen weitergeht, wird aus Gründen des Opferschutzes und zur Wahrung der Intimsphäre des aus Südbaden stammenden Angeklagten, der noch einen Halb- und einen Zwillingsbruder hat und bei seiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist, in weiten Teilen nichtöffentlich verhandelt werden: Die vier jungen Opfer leiden teilweise noch heute massiv unter den Folgen der Übergriffe, die sich in der Wohnung des Mannes, aber auch bei Fahrradtouren und im Zeltlager ereignet haben sollen. Vermutlich war die Zahl der Taten weitaus höher als in der Anklage aufgeführt. Ein Teil der Vorwürfe wurde allerdings nicht zur Anklage gebracht, weil die einzelnen Delikte als kaum mehr nachweisbar gelten.

Urteil wird für Mitte kommenden Monats erwartet

Eines der Opfer ist stark traumatisiert und nicht vernehmungsfähig. Ein anderer, das nach Beginn des Missbrauchs bei den Pfadfindern aussteigen wollte und von den Eltern in die Jugendgruppe zurückgeschickt wurde, weil sie keinen Verdacht schöpften, ist bis heute in therapeutischer Behandlung. Der Junge brachte die Ermittlungen ins Rollen, als er Berichte über den ersten großen Staufener Missbrauchsfall vor über einem Jahr las und sich daraufhin seinen Eltern offenbarte. Auch damals war ein Mann namens Christian L. der Haupttäter, der allerdings mit dem aktuellen Angeklagten nur den Vornamen und den ersten Buchstaben des Nachnamens gemeinsam hat.

Das Urteil im aktuellen Fall, über den unsere Zeitung im Mai 2019 bundesweit als erste berichtet hatte, wird für Mitte Februar erwartet. Staatsanwältin Novak sagt zu Prozessbeginn am Montag, dass sie die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung für den angeklagten Mann für gegeben sieht. Gegen einen zweiten, 28 Jahre alten Verdächtigen, der ebenfalls bei den evangelischen Pfadfindern in Staufen sexuelle Übergriffe begangen haben soll, wird weiterhin ermittelt.

Staufen war bereits wegen anderer Sexualverbrechen an einem Jungen in den Schlagzeilen gewesen. Einen Zusammenhang mit den Missbrauchsvorwürfen bei den Pfadfindern gibt es aber nicht.