Fredi Bobic (re./gegen Jan Suchopárek) im EM-Vorrundenspiel 1996 gegen Tschechien (2:0). Foto: Getty

VfB-Sportvorstand Fredi Bobic über die Chancen der deutschen Elf bei der WM 2014 und mögliche kommende VfB-Nationalspieler.

Hallo, Herr Bobic. Die deutsche Elf ist nach dem Sieg gegen Irland für die WM 2014 qualifiziert. Sind wir jetzt reif für den Titel?
(Lacht) Jetzt aber mal langsam. Die Jungs haben eine prima Qualifikation gespielt, aber das WM Turnier ist eine ganz andere Herausforderung.
Was trauen Sie der Mannschaft zu?
Viel, aber die Konkurrenz ist bärenstark. Die Vorrunde ist bei einer Weltmeisterschaft eigentlich selten ein Problem. Danach kommt es aber oft auf Nuancen an. Das sind dann sehr enge Spiele. Da reicht ein manchmal schwacher Moment, und du bist weg vom Fenster.
So wie bei der EM 2012 im Halbfinale gegen Italien . . .
. . . das ist ein gutes Beispiel, das zeigt, woran unser Team noch arbeiten muss.
An der Durchsetzungsfähigkeit?
Richtig. Das Spiel war geprägt von großen fußballerischen Fähigkeiten und hoher Spielintelligenz auf beiden Seiten, aber du musst in solchen Duellen auch mal die Ellenbogen ausfahren und dem Gegner wehtun können.
Die Spanier haben Puyol, Pique oder Xabi Alonso.
Genau, du brauchst in jedem Team auch Spieler, die auch mal dazwischenhauen können. Sogar die Brasilianer haben solche Kanten.
Warum braucht man die eigentlich?
Die deutsche Mannschaft versucht inzwischen, jedes Problem spielerisch zu lösen. Wenn der Plan dann nicht aufgeht, scheinen ihre Möglichkeiten ausgereizt. Das ist dann am Ende eventuell zu wenig, um einen großen Titel zu holen.
Was das Beispiel der Niederländer eindrucksvoll belegt.
Wir haben ihnen ja lange Zeit nachgeeifert. Inzwischen haben wir sie spielerisch sogar überholt. Aber sie haben ähnliche Probleme wie wir – es fehlt der letzte Punch, das entscheidende Quantum an Durchsetzungsvermögen.
Das lässt sich nicht per Knopfdruck beheben. Das hat auch mit dem Charakter zu tun.
Ja, das fehlt inzwischen vielleicht ein bisschen im deutschen Fußball. Wir haben uns unglaublich gut entwickelt, sind spielerisch und balltechnisch um Klassen besser geworden. Der deutsche Fußball ist international hoch geschätzt. Aber jetzt spielen die Teams in der Liga alle ähnlich, und dieser kantige und zweikampfstarke Typus von Spieler ist dabei ein wenig vernachlässigt worden.
Brauchen wir wieder Wadenbeißer wie früher Jens Jeremies?
Der war jedenfalls unheimlich wertvoll fürs Team. Solche Typen helfen dir in einem großen Turnier.
Beim letzten großen Titel waren Sie dabei. 1996 wurde Deutschland Europameister. Da waren auch nicht nur Schönspieler am Start.
Wir hatten den unbändigen Willen, jedem Gegner unser Spiel aufzuzwingen. Auf dem Platz waren wir eine verschworene Einheit. Aber glauben Sie bloß nicht, dass wir außerhalb des Spielfelds alle Freunde waren. Da gab es heftige Konkurrenz, weil wir um die Stammplätze kämpften.
Warum gibt es solche Kerle nur noch selten?
Das ist ein Stück weit auch der Spiegel unserer Gesellschaft. Den Hang zur Anpassung prägen wir schon unseren Kindern ein, weil wir sie überbehüten, ihnen alles abnehmen und dabei die Fähigkeit zur Eigenverantwortung ein wenig vernachlässigen.
Sind die Wohlfühloasen in der Scheinwelt Profifußball ein Ausfluss dieser Entwicklung?
Ein Stück weit mit Sicherheit. Es ist ja gut und richtig, dass wir den Spielern ein professionelles Leistungsumfeld ermöglichen. Aber wir müssen auch ihre Individualität fördern. Es traut sich ja kaum mehr jemand, mal eine eigene Meinung zu formulieren. Viele Profis scheuen sich heute davor, auch mal anzuecken.
Damit hatten Sie als VfB-Profi eher wenig Probleme.
(Lacht) Ja, ich habe mit unserem Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder manchen Strauß ausgefochten. Aber wir haben uns dann zusammengesetzt und eine gemeinsame Ebene gefunden. Ich habe in diesen Diskussionen sehr viel gelernt. Davon profitiere ich noch heute.
Dann halten Sie die Kritik von Philipp Lahm an Bayern-Sportdirektor Matthias Sammer für unproblematisch?
Im Grunde schon. Vor allem, wenn er die Dinge vorher intern angesprochen hat. Davon gehe ich aus. Generell begrüße ich es, wenn sich die Spieler ihre eigenen Gedanken machen. Davon gibt es zu wenig. Nur wer gelernt hat, solche Konflikte auszutragen, wird in entscheidenden Situationen im Spiel auch Verantwortung übernehmen und die richtigen Entscheidungen treffen.
Sehen Sie in der Bundesliga den Spielertypus, der auch mal dazwischen haut und sich was traut?
Es gibt ein paar junge Profis, die das drauf haben. Auch unser Innenverteidiger Antonio Rüdiger. U-21-Coach Horst Hrubesch schwärmt nicht ohne Grund von ihm. Diese Jungs haben eine ganz andere Art zu spielen. Die kennen auf dem Platz keine Verwandten. Wenn sie dann einen spielerisch guten und erfahrenen Mann neben sich haben, ist das eine prima Mischung. Das kann in bestimmten Situationen sehr wertvoll sein.
Antonio Rüdiger macht sichtbar Fortschritte, ihm fehlt aber noch die Reife.
Deshalb bekommt er im Übereifer auch mal eine Rote Karte. Er lernt daraus, und das ist wichtig. Wenn er sich allerdings so weiterentwickelt, kann er der nächste Nationalspieler vom VfB Stuttgart sein. Auch Sven Ulreich hat Chancen, wenn er weiter konstant seine Leistung zeigt. Die aktuellen Torhüter im DFB-Team zeigen mit Ausnahme von Manuel Neuer doch deutliche Formschwankungen. Auch Timo Werner traue ich zu, dass er es irgendwann packt.
Was sagt der frühere Stürmer: Würden Sie Stefan Kießling mit zur WM nehmen?
Es ist sicher so, dass Miroslav Klose besser in die Art passt, wie Joachim Löw spielen lässt. Aber einen Spieler wie Kießling bei der WM dabei zu haben ist nie ein Fehler. Es kann Spiele geben, in denen er genau der richtige Angreifer ist. Aber Jogi Löw kann ja nicht unzählig Stürmer mitnehmen.
Was halten Sie vom Trend, ohne echten Stürmer zu spielen, mit der sogenannten falschen Neun?
Dieser Trend wird sich nicht durchsetzen. Auch deshalb, weil es, wie bei den Spaniern schon gesehen, ein einschläferndes Ballgeschiebe durch die offensiven Mittelfeldspieler geben kann. Nein, der Fußball braucht die echten Torjäger, die mit einer gewissen Zielstrebigkeit im Strafraum zum Erfolg kommen wollen. Das ist auch das, was die Fans begeistert.
Wo steht die deutsche Elf acht Monate vor dem WM-Turnier?
Der Kader steht im Kern. Darauf kann Joachim Löw aufbauen und in den Spielen bis zur WM noch ein bisschen experimentieren. Wenn wir unser Spiel durchbringen, haben wir sicherlich gute Chancen. In den Top-Spielen gegen Teams wie Italien, Spanien oder Brasilien muss es aber möglich sein, den kreativen und schönen Fußball auch mal zu unterbrechen, um dem Gegner unser Spiel mit allen Mitteln aufzuzwingen.
Dann sind Sie skeptisch im Hinblick auf den WM-Titel?
Um ehrlich zu sein: Ja, das bin ich. Den WM-Titel in Südamerika zu holen ist schon eine brutal schwierige Aufgabe.
Warum?
Weil die Bedingungen komplett anders sind. Das Klima, die Luftfeuchtigkeit, der Rasen, die Atmosphäre in den Stadien. Da fühlen sich die südamerikanischen Teams einfach wohler und heimischer. Das darf man nicht unterschätzen. Aber wissen Sie was . . .
. . . ja, bitte!
. . . ich halte nichts davon, wenn man eine WM nur daran misst, ob man den Titel holt. Wir können im Viertel- oder Halbfinale ausscheiden und trotzdem begeisternd gespielt haben. Das ist für mich der Maßstab.
Dann würden Sie Jogi Löw auch nicht daran messen, ob es endlich mit dem ersten Titel klappt?
Auf keinen Fall. Er ist ein prima Bundestrainer. Ich sehe zurzeit keinen besseren. Deshalb verstehe ich auch nicht, dass sein Vertrag unbedingt vor der WM verlängert werden muss. Ich würde erst das Turnier spielen und dann in Ruhe alles bewerten.
Wer sind Ihre Titelfavoriten?
Die deutsche Elf zählt sicher dazu. Auch mit Italien und Spanien ist wieder zu rechnen. Und wenn die Brasilianer mit dem Dampf ins Turnier gehen, den sie beim Confed-Cup gezeigt haben, dann wird es schwer sein, sie zu stoppen. -