Tun sich Frauen im Tanz leichter als in anderen Sparten, Führungspositionen zu übernehmen? Aktuelle Ernennungen lassen dies vermuten. Doch der Schein trügt.
2023 übernimmt Cathy Marston das Ballett in Zürich, Adolphe Binder das in Basel. Emily Molnar leitet seit 2020 das Nederlands Dans Theater, Aurélie Dupont steht seit 2016 an der Spitze des Balletts an der Pariser Oper. Frauen, so scheint es, schaffen es in der Tanzsparte leichter in Führungspositionen als in den anderen Bühnenkünsten. Dass Ballett seit seinen Anfängen wie in „Giselle“ Ballerinen in den Mittelpunkt stellt, dass Kompanien oft mehr Tänzerinnen als Tänzer haben, mag da eine Rolle spielen.
Das untermauert ein Blick auf die Musik. Als die Geigerin Madeleine Carruzzo als erste Frau von den Berliner Philharmonikern aufgenommen wurde, war das 1982 eine kleine Sensation. Damals leitete Marcia Haydée das Stuttgarter Ballett bereits seit sechs Jahren. Die Primaballerina und Muse John Crankos hatte nach dessen plötzlichem Tod und dem kurzen Intermezzo von Glen Tetley 1976 die Kompanie übernommen.
Tanz steht in der Geschlechterfrage besser da
Vierzig Jahre nach Carruzzos Debüt liegt der Frauenanteil bei den Berliner Philharmonikern bei 14 Prozent, im deutschen Durchschnittsorchester ist er immerhin auf rund 40 Prozent gestiegen. Aber während heute nicht mal eine Handvoll der 129 öffentlichen deutschen Orchester von Frauen dirigiert wird, steht der Tanz in der Geschlechterfrage besser da. Laut Auskunft der Bundesdeutschen Konferenz der Ballett- und Tanztheaterdirektorinnen und -direktoren (BBTK), in der rund 80 Prozent der Tanzkompanieleitenden organisiert sind und die damit ein einigermaßen repräsentatives Bild zeichnet, gibt es unter den Mitgliedern 27 Prozent Spartenleiterinnen.
Lesen Sie aus unserem Angebot: Sue Jin-Kang über Abschied und Neustart
„Ballet is a Woman“ wird George Balanchine gern zitiert. Ja, die großen Rollen sind frauendominiert, und einige wichtige Kompanien wurden oder werden von Frauen geleitet. Trotzdem oder gerade deshalb sind Frauen in den Führungspositionen unterrepräsentiert. Viele Vorbilder hatte auch Marcia Haydée nicht, als sie 1976 den Schritt an die Spitze des Stuttgarter Balletts machte. Aber das sei in der besonderen Stuttgarter Situation auch nicht nötig gewesen. „Das war überhaupt nie ein Thema, dass ich eine Frau bin“, sagt die ehemalige Direktorin im Rückblick bei einem Telefonat. „Ich bin damit aufgewachsen, dass ich alle Möglichkeiten hatte, auch in einer Männerwelt. Und als ich die Direktion in Stuttgart übernommen hatte, standen für mich bei den Politikern alle Türen offen.“
Hat die kreative Arbeit mit Choreografen Einfluss?
Hatte ihr Selbstvertrauen damit zu tun, dass Haydée als Protagonistin in Crankos Balletten und bei deren Erarbeitung im Ballettsaal besonders gefordert war und gewohnt, mitzuentscheiden? Das Stuttgarter Ballett, in dem die kreative Arbeit mit Choreografen Alltag ist, hat von Anne Wooliams bis Bridget Breiner ja eine ganze Reihe von Direktorinnen hervorgebracht.
Marcia Haydée sieht das anders. „Zu meiner Zeit war es eher so, dass Choreografen wie Cranko und Nurejew sich für männliche Tänzer stark machten und deren Rollen in Klassikern wie ,Schwanensee‘ aufwerteten, wo sie zuvor nicht so viel zu tanzen hatten“, gibt die heute 84-Jährige zu bedenken. Cranko, betont Haydée, wollte gleichberechtigte Tänzer und Tänzerinnen und setzte auf gegenseitiges Vertrauen. „Er hat mich früh mit Fragen konfrontiert, wenn es darum ging, was gut für die Kompanie sei, und sagte zu mir: Eines Tages wirst du Direktorin sein und ich werde nur noch choreografieren. Er hat in mir diese Kapazitäten schon gesehen.“
Lesen Sie aus unserem Angebot: Bridget Breiner über ihrer Karriere als Direktorin
Fehlt es an solcher Förderung? Mädels stehen in Balletten wie „Schwanensee“ akkurat in Reih und Glied, während Jungs mit Sprüngen und Pirouetten beeindrucken: Dieses Argument wird oft hervorgeholt, um zu erklären, warum Frauen im Tanz nicht häufiger den Ton angeben. Fehlt es an Vorbildern? Schaut man heute auf die Zahl der Frauen, die in der deutschen Theaterlandschaft auf Führungspositionen sitzen – laut einer Studie sind das lediglich rund zwanzig Prozent –, scheint Haydées Direktion vor einem halben Jahrhundert ein großer Schritt. Zumal seit ihrem Abschied 1996 die Intendantenriege an den Stuttgarter Staatstheatern rein männlich besetzt ist.
Förderung als Druckmittel?
Was Geld bewirken kann, zeigt ein Blick in die USA. Vielleicht lassen sich Sponsoren davon anregen, mehr Gendergerechtigkeit einzufordern? In den USA wurden Frauen 1963 unerwartet tonangebend im Ballett, als die Ford-Stiftung 7,7 Millionen Dollar in diese Kunst pumpte. George Balanchine zweigte zwar die Hälfte für sein New York City Ballet und dessen Schule ab, seine Empfehlungen führten aber auch zur Gründung von Kompanien wie denen von Philadelphia, Houston oder Washington. Aus Ballettschulen hervorgegangen, wurden sie von Frauen wie Virginia Williams in Boston aufgebaut und weiterentwickelt. Bis heute sind diese Kompanien führend in der US-Szene – und werden inzwischen meist von Männern geleitet.
Info
Zahlen
22 Prozent der deutschen Theater werden von einer Frau geleitet; 30 Prozent der Inszenierungen dort sind von Frauen. In mageren 14 Prozent der Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks führen Frauen Regie. Von 129 Orchestern in Deutschland werden drei von Frauen dirigiert: Die im Juni 2020 veröffentlichte Studie „Frauen und Männer im Kulturmarkt“ zog eine ernüchternde Bilanz.
Personen
Die Tanzsparten sind an deutschen Theatern immerhin zu 27 Prozent in weiblicher Hand. Aus dem Stuttgarter Ballett sind folgende Direktorinnen hervorgegangen: Anne Wooliams – Australian Ballet (1976-1978), Marcia Haydée – Stuttgarter Ballett (1976-1996), Ballet de Santiago de Chile (1994-2020), Birgit Keil - Badisches Staatsballett (2003-2019), Kathryn Bennetts – Royal Ballet of Flanders (2005-2012), Sylviane Bayard – Ballett der Deutschen Oper Berlin (1999-2004), Sue-Jin Kang – Koreanisches Staatsballett (seit 2014), Bridget Breiner – Badisches Staatsballett (seit 2019), Ballett am Musiktheater Gelsenkirchen (2012-2019), Daniela Kurz – Nürnberger Ballett (1998-2008).
Klagen
Weibliche Direktorinnen garantieren nicht automatisch einen fairen Umgang. Das zeigt der Fall der Linzer Tanz-Chefin Mei Hong Lin, die nach Vorwürfen von Machtmissbrauch, Bossing, Verletzung der Fürsorgepflicht und anderen mehr im September 2021 freigestellt worden war. Am 7. Februar lösten sie und das Theater Linz ihren Vertrag auf.