Erstmals zu Gast auf der Sonneninsel war am Mittwochabend Franz Müntefering. Bürgermeister Christoph Schaack hatte den prominenten SPD-Politiker über die Volkshochschule (VHS) Calw eingeladen, um über sein neues Buch "2020+" und seine Gedanken zur Demografie und das Älterwerden zu referieren.
Dobel - "Wir wollen selbstbestimmt leben, also müssen wir auch etwas dafür tun", so das Credo des ehemaligen SPD-Chefs, der rund eine Stunde stehend und ohne Manuskriptvorlage im Kurhaus über das Älterwerden spricht. "Seine 82 Jahre sieht man dem Referenten gar nicht an", so eine Zuhörerin, die ebenso wie Volker Schlöder vom SPD-Ortsverein Bad Herrenalb-Dobel mitgerissen vom Vortrag ist. "Wir sind begeistert von dem, was er gesprochen hat", so Schlöder, der dazu nach eigenen Aussagen wichtige Anregungen und Ideen mitgenommen hat, wie "man in der Gemeinschaft zusammenrücken kann, um alte Menschen nicht auszugrenzen".
Kultureller Irrtum
Um der Vereinsamung von Senioren vorzubeugen, fordert Müntefering seine Mitmenschen auf, auch im Alter aktiv zu sein und erklärt: "Das terminierte Renteneintrittsalter ist ein kultureller Irrtum unserer Zeit." Der Sozialdemokrat der alten Schule ist Jahrgang 1940 und hat nach Abschluss der Volksschule mit 14 Jahren eine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht. 1966 trat er in die SPD ein. 1975 gehörte er erstmals dem Bundestag an, war von 1996 bis 1998 Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen und ging dann bis 2013 erneut in den Bundestag. Aber ans Aufhören denkt er bis heute nicht.
Persönliche Erinnerungen
Als Buchautor geht der mittlerweile 82-Jährige aktiv auf Reisen und referiert über Themen, die die Gesellschaft bewegen. "Das Rentenalter gab es vor 150 Jahren nicht und das wird es in 150 Jahren auch nicht mehr geben." Ihn beschäftigt das Thema Demografie, also die Wissenschaft, die sich mit der Entwicklung von Bevölkerungen befasst. Persönliche Erinnerungen aus Kindertagen, als Papier noch Mangelware war und die Mutter dem Sprössling erlaubte, die Sitzfläche unter den Stühlen als Maluntergrund für seine Kringel zu nutzen, bilden den Auftakt für seine lebendig referierte Zeitreise.
Und den sorgenvollen Blick in die Zukunft, in der die Lebenserwartungen der Menschen immer höher werden. "Wer heute geboren wird, hat die Chance 100 Jahre alt zu werden", so die Auskunft von Müntefering, der damit zum Ausdruck bringt, wie schön es ist, das Leben aktiv zu genießen – aber älter zu werden eben nicht so ganz einfach ist.
Präventiv denken
"Mit Corona kamen Beschränkungen, die belastend für viele zu einer persönlichen Katastrophe wurden." Müntefering spricht von Vereinsamung sowie den Sorgen um die Gesundheit und motiviert die Ruheständler, aktiv zu sein. "Unsere Währung ist die Zeit – und wer die einsetzt, der bekommt auch Dividende." Er referiert über kognitiv geschwächte und demente Menschen, die in Heimen leben und vom Besuch von Freunden und Verwandten abhängig sind, um soziale Kontakte zu pflegen. "Doch in Corona-Zeiten war das alles weg, keiner durfte die alten Menschen besuchen, auch dann nicht, wenn es Todesfälle gab." Müntefering fordert auf, präventiv zu denken, und fordert auch ältere Menschen auf, selbst einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. "Wir müssen auch im fortgeschrittenen Alter lebendig bleiben, denn wir haben etwas zu tun."
Soziale Kontakte
Mit einem Exkurs in die Babyboomer-Jahre zeigt er den Wandel der Gesellschaft auf. "Damals lebten noch drei Generationen in einer Wohnung, heute gibt es in Großstädten über 50 Prozent Einpersonenhaushalte und auf dem Land meist viele Senioren, die nach dem Tod des Ehepartners alleine in der Wohnung leben. Doch Essen auf Rädern kann nicht die Lösung sein." Müntefering fordert seine Zuhörer auf, sich über das Thema soziale Kontakte aktiv Gedanken zu machen.
Auch über Facebook hatte die Gemeinde die Veranstaltung angekündigt:
Drei Schlagworte
Als Lösungsansatz nennt er die drei Schlagworte "Laufen, Lernen, Lachen" und verdeutlicht damit als rüstiger Lebenskünstler seine Philosophie: "Laufen ernährt das Gehirn, egal, ob es sich um ein Rollatoren-Rennen oder einen Spaziergang handelt." Müntefering fordert auf, sich mindestens zwei Mal in der Woche mit Freunden zu treffen, um sich in der Natur zu bewegen. "Es geht nicht alleine um Sport, sondern zudem um die sozialen Kontakte. Wer sich kennt, passt auf den anderen auf."
Doch nicht nur Bewegung, auch das Vermitteln von Wissen bringt Kontakte. "Wer als Rentner Patenschaften übernimmt, Kindern beim Lernen hilft oder einfach Eltern und Kinder in der Nachbarschaft unterstützt, gewinnt neue Freunde." Das Engagement innerhalb der Gesellschaft wird bei Müntefering großgeschrieben und so stellt er als drittes "L" das Lachen in den Fokus. Getreu dem Motto: Nur gemeinsam macht das Leben Spaß. Und wer kommuniziert, kann auch mit anderen gemeinsam lachen, sagt Müntefering. Er rät dazu, das Leben so gut es geht zu nutzen.