Zu Ostern wird auf der Mittelmeerinsel Korsika des Leidenswegs Christi gedacht. In fast jedem Ort gibt es aufwendige Prozessionen.
Bastia döst in träger Anmut in der Frühlingssonne. Die Judasbäume stehen in voller Blüte, schäumen in grellem Rosaviolett. Bastia ist nicht die Hauptstadt, aber das Wirtschaftszentrum der Insel Korsika. Doch kurz vor Ostern setzt die Umtriebigkeit aus. Der Lärm ebbt ab. Selbst die Fähren schieben sich fast lautlos an den Kai. Bastia wird so still, als wolle es in sich gehen. In Bonifacio passiert das Gegenteil. Den Winter über liegt der windumtoste Ort in einer Art Schlaf. Nur wenige Einwohner harren in den alten Häusern aus. Am Gründonnerstag aber ist Bonifacios Winterschlaf beendet. Die eisernen Rollläden der Boutiquen und Korallenläden rasseln nach Monaten wieder nach oben. Die Restaurants haben wieder geöffnet. Im Stella d’Oro wirft Köchin Anna Ettori den Herd an, serviert gratinierte Muscheln und Auberginen nach Bonifacio-Art. Zum Dessert gibt es Fiadone, Käsekuchen aus frischer Schafsmilch. Stärkung ist nötig, denn der Abend wird lang. Erst wenn der Ort in tiefer Dunkelheit liegt, beginnen die Prozessionen der fünf Bruderschaften. „Früher“, sagt Pierre Gazano von der Confrérie de Sainte Marie-Madeleine, „war es die Aufgabe der Bruderschaften, sich um die Armen zu kümmern, sie mit Essen und Obdach zu versorgen.“
Seit der Staat diese karitativen Aufgaben übernommen hat, sei die Vereinigung eine Art Club, dessen Mitglieder einmal im Jahr in Büßergewändern der Passion Christi gedenken. Am Abend des Gründonnerstags ziehen die jeweiligen Bruderschaften samt mehreren Gläubigen kreuz und quer durch die engen Gassen. Als sanft-beruhigendes Lamento ertönt der Wechselgesang mit der Bitte um göttliche Verzeihung zwischen Vorsänger und Gefolge: Perdono mio Dio, mio Dio perdono. Kurz vor Mitternacht lösen sich die Züge auf. Der Vollmond steht über dem Meer, das wie gehämmertes Silber glänzt. In den Mausoleen des Cimetière Marin, dem Friedhof hoch über der See, brennen die Kerzen für die Verstorbenen. Am Karfreitag gleißt die Sonne über den Zügen der Bruderschaften, die bereits seit dem frühen Morgen wieder unterwegs sind, von einem Gotteshaus zum nächsten. Mit vollem Bariton intoniert der Vorsänger die schier endlose Litanei von Heiligennamen. Bruderschaftler und Gläubige fallen nach jeder Anrufung mit der kollektiven Fürbitte „Ora pro nobis“ ein. Der Morgen vergeht im friedlichen Singsang der Gläubigen. Gegen Mittag läuft das erste Touristenboot der Saison aus, tourt durch den fjordartigen Naturhafen und dann die spektakuläre Küste entlang, deren eine Seite von blendend hellen Kalkfelsen gesäumt wird, die andere dagegen von leuchtend rosa Granitformationen. Praktisch der gesamte Küstenstreifen steht unter Naturschutz und erscheint so unberührt, als habe Gott ihn eben erst erschaffen.
Die Prozession von Sartène
Während Bonifacio sein frommes Programm nun absolviert hat, bereitet man sich in Sartène auf die große Karfreitagsprozession vor. Schon bevor es dunkel wird, ist in dieser laut Prosper Merimée „korsischsten aller korsischen Städte“ kein einziger Parkplatz mehr zu finden. Sartène ist eine streng wirkende Stadt mit Fassaden aus düster-grauem Granit. Die Prozession von Sartène gilt als die wichtigste der Insel. U Catenacciu, „der Gekettete“, nennt sich das Ereignis. Gegen 21.30 Uhr strömt der Zug der Gläubigen aus der Kirche Sainte-Marie, angeführt von einer Gestalt in blutrotem Gewand und verhülltem Kopf. Nur zwei winzige Sehschlitze bleiben dem Geketteten, um seinen Weg zu finden. Auf den Schultern trägt er ein gut 30 Kilo schweres Holzkreuz, an seinem rechten Fußgelenk schleift er eine schwere Kette hinter sich her. Ihm zur Seite steht ein zweiter, sogenannter kleiner Büßer in Weiß, der ihm, wie einst Simon von Cyrene in der Passion Jesu, zuweilen die Last des Kreuzes abnimmt. Niemand außer dem Gemeindepfarrer, so heißt es, weiß um die Identität des Catenacciu.
Dreimal fällt der Gekettete, wie Christus auf seinem Leidensweg, während der Prozession unter dem Kreuz. Zuweilen bringt die Menge ihn sogar bewusst zu Fall. Schaulustige steigen auf Laternen und klettern in die Bäume, um Fotos des Gequälten zu machen. Was sich hier abspielt, ist eine längst zum Event verkommene einst fromme Tradition. Friedlicher geht es Ostersonntag in Corte zu, das in der kurzen Periode korsischer Eigenständigkeit Hauptstadt war und heute Sitz der kleinsten Universität Frankreichs ist. Die Sonne gießt Glanz über die Altstadtfassaden und die zwischen die engen Gassen geklemmte Verkündigungskirche. Abbé Roger-Dominque Polge hält die feierliche Messe und verabschiedet die Gläubigen persönlich an der Kirchentür. Den Männern reicht er die Hand, die Damen erhalten Wangenküsschen zusammen mit Gottes Segen. Aus den Fenstern duftet schon der Feiertagsbraten. Es ist Zeit, das Osterlamm zu genießen. Ostermontag, der zweite Feiertag, ist das Datum, an dem man zum ersten Mal an den Strand geht, sich mutig in die noch kühlen grünblauen Fluten wirft und anschließend mit der Familie ein Picknick am Saum der See zelebriert. Der Sommer kann kommen.