Der in Frankfurt erwartete Literaturnobelpreisträger bleibt aus, dafür präsentiert sich das Gastland Philippinen mit einem Nationalautor, der schon einmal Heidelberg bedichtet hat.
Am Rande der Krönungszeremonie für den Deutschen Buchpreis im Frankfurter Römer, mit der jede Buchmesse beginnt, kommt es vor der Galerie der 52 Kaiser und Könige des Heiligen Römischen Reiches immer wieder zu bemerkenswerten Szenen. Unvergessen der im letzten Jahr bei der Preisverleihung leer ausgegangene Clemens Meyer, der schimpfend und Beleidigungen ausstoßend den Saal verlassen hat, weil in seinen Augen niemand anderem als ihm die Auszeichnung zugestanden hätte.
Das sympathische Gegenstück zu diesem wilden Akt der Selbstbekränzung zeigte sich jetzt in der Erleichterung, die Christine Wunnicke anzumerken war, als der Kelch der Auserwähltheit an ihr vorübergegangen war. Die öffentlichkeitsscheue Münchner Autorin zählte mit ihrem anarchischen Historientableau „Wachs“ zum engeren Favoritenkreis. Insider behaupten, man könne bereits aus der kameragerechten Sitzordnung schließen, auf wen die Wahl falle, und da saß sie wohl, sich in Unbehaglichkeit windend, im Rampenlicht, bis die scheidende Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, aus ihrem Umschlag den Namen der in der Nähe sitzenden Kollegin Dorothee Elmiger zog. So etwas gibt es also auch, das Glück vom Ruhm verschont zu werden. Dabei hätte man es ihrem kleinen, aber kostbaren Berenberg Verlag durchaus gegönnt, wäre seine Arbeit mit dem Preis gekrönt worden. Im nächsten Jahre stellt er seine Geschäfte ein.
Die höchste Kaiserkrone der Literatur ist der Nobelpreis. Eigentlich hatte sich der frischgekürte ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai zur Eröffnungspressekonferenz angekündigt. Doch offensichtlich waren die Freudenstrapazen so groß, dass der zwar in Frankfurt Weilende sich kurzfristig krankheitsbedingt abmelden musste.
Statt seiner kommt die junge Berliner Debütantin Nora Haddada zu Wort, um die Lage der Literatur aus der Sicht ihrer Generation zu beschreiben: „Shit is going down“ lautet ihre Devise, Covid, Ukraine, Hamas und „Achtung ich sage es: der Genozid in Gaza“ – anders als noch vor einiger Zeit bleibt letztere Bemerkung unkommentiert. Doch in einer überraschenden Volte leitet sie aus ihrer niederschmetternden Diagnose einen optimistischen Aktivismus ab: „Wir sind eh am Sack und haben nichts zu verlieren, das birgt eine große Freiheit in sich.“
Shit is going on
Etwas ziviler klingt „Shit is going down“ bei Karin Schmidt-Friderichs. Sie verbindet damit die Gefahren, die aus einem unreglementierten Umgang mit Künstlicher Intelligenz resultieren: „Jeden Morgen lesen wir auf unserem Joghurt, welche Zusatzstoffe darin enthalten sind, doch ein Verbraucherschutz für unser Gehirn fehlt.“ Und sie appelliert, dieses mächtige Werkzeug nicht einer Handvoll Big-Tech-Firmen zu überlassen: Die Politik müsse endlich durch klare Regeln gewährleisten, dass KI dem Menschen und der Gesellschaft dient – und nicht umgekehrt.
Dorothee Elmigers Buchpreisprämierter Roman „Die Holländerinnen“ handelt von einer Fahrt ins Ungewisse. Und eine Entdeckungsfahrt verspricht auch das diesjährige Gastland zu werden. Die philippinische Literatur ist hierzulande noch weitgehend eine Terra incognita. Dabei lebte der Nationalautor José Rizal Anfang 1886 mehrere Monate im nahen Heidelberg. „An die Blumen von Heidelberg“ ist der Titel eines seiner Gedichte.
Rizal hat Friedrich Schillers Tyrannendrama „Wilhelm Tell“ in seine Muttersprache, das Tagalong, übersetzt. In dem Roman „Noli Me Tangere“ kritisierte er die Macht der katholischen Kirche, die Ungleichheit, die Korruption der spanischen Kolonialherren. Seinen rebellischen Geist bezahlte er mit dem Leben. Mit 35 Jahren wurde er 1896 hingerichtet und gilt heute als Nationalheld der Philippinen.
Die Themen, die Rizals Nachfolgerinnen und Nachfolger bearbeiten, drehen sich nicht selten um politische Unfreiheit, die Nachwirkungen der Marcos-Diktatur und der menschenverachtenden Politik der Duterte-Regierung. Auch wenn die Philippinen heute eine Demokratie nach amerikanischem Vorbild sind, liegt die Herrschaft in den Händen von zwanzig Oligarchen-Familien. Rund 100 Literaturschaffende der Inselnation, die 135 registrierte einheimische Sprachen, verteilt auf 7641 Eilande, umfasst, kommen nach Frankfurt. Das Motto „Fantasie beseelt die Luft“ ist dem erwähnten Roman Rizals entnommen, wie auch das von luftigen Flügeln überwölbte Archipel im Pavillon des Ehrengasts vom Werk des philippinischen Klassikers inspiriert ist.
Die meisten der ausgestellten Bücher sind auf Englisch, Tagalong oder der Nationalsprache Filipino. Was man nicht versteht, vermitteln die reiche Comic-Kultur des Landes, die visuellen Einblendungen auf den Außenflächen der im weiten Raum verteilten Leseinseln und die Euphorie, mit der die Gäste sich präsentieren. Freundlicher ist man jedenfalls in Frankfurt noch nirgends begrüßt worden: Bei der Eröffnung wurde jeder Besucher zusammen mit dem Willkommensgruß „Mabuhay“ mit einem Blumenkranz bekrönt. So schließt sich der Kreis.