In Frankfurt kann man leicht zwischen die Seiten geraten. Foto: Arne Dedert/dpa

Ein Spaziergang über die Frankfurter Buchmesse zwischen geistigem Vampirismus und Romantacy an die Problemzonen der Welt – und am Ende wird alles gut.

Oh je, diese riesigen Hallen, ein kleinstadtgroßes Areal voller Bücher, in den Gängen ein Brummen und Summen, als hätte man alle Literaturhäuser der Welt kurzgeschlossen, und überall kommen einem Leute entgegen, deren Gesichter man von irgendwoher zu kennen glaubt, hier ein Illies, dort eine Wahl.

 

Am Anfang jeder Buchmesse steht ein leichtes Schwindelgefühl. Schon das unterscheidet das Frankfurter Großereignis von jenem anderen herbstlichen in München, bei dem dieses Gefühl in der Regel erst am Ende steht. Ein weiteres Distinktionsmerkmal fällt beim Weg vom U-Bahnschacht zum Messegelände auf einem Plakat ins Auge: „Das einzige Oktoberfest, bei dem die Sprache nicht leidet.“

Opening statt Ozapft: Die Vorsteherin des Börsenvereins Karin Schmidt-Friderichs eröffnet mit einem Hammerschlag die Messe. Foto: Arne Dedert/dpa

Anstelle eines Fassanstichs klopft am Ende jeder Eröffnungsfeier die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels mit einem kleinen Hämmerchen auf ihr Redepult und weckt das Publikum aus den seligen Träumen, in die es ein Schwall hochkarätiger Sonntagsreden über die Bedeutung des Buches für die Demokratie und eigentlich alles versetzt hat.

Aber stimmt das überhaupt noch? Das will am Morgen des ersten Messetags die Literaturmoderatorin Thea Dorn auf der Lesebühne des Pen Berlin von ihren Gesprächspartnern wissen, unter dem schmissigen Titel „Literatur heute – kann das weg?“ Und vielleicht ist es gar kein schlechter Anfang, einmal polemisch die einschüchternde Last auf den Schultern der Schreibenden infrage zu stellen, als ginge es dabei immer gleich darum, die Welt zu retten.

KI – die unheimliche Kraft, die Neues aus Bekanntem schafft

Während die Büchnerpreisträgerin Felicitas Hoppe ganz gut damit leben kann, nicht mehr das Gewissen der Nation sein zu müssen, skizziert der frühere Kiepenheuer&Witsch-Verleger, Helge Malchow, was mit der Entwicklung auf dem Spiel steht: Für eine Literatur, die uns nicht nur unterhalten, sondern klüger machen will, werde die Luft immer dünner. Auf der einen Seite zielten die weltweit erstarkenden autokratischer Strömungen darauf, kritische, unkontrollierbare Stimmen zu verdrängen. Auf der anderen Seite drohe eine politisch-moralische Domestizierung ihren Freiheitsraum einzuschränken.

Und dann natürlich die KI. Jene unheimliche Kraft, die aus Bekanntem Neues schafft – allerdings ohne über das bereits Vorhandene hinauszugehen. Wobei auch in der Frage der Originalität Felicitas Hoppe durchaus eigenwillige Ansichten pflegt: Stehen wir nicht alle auf den Schultern von Riesen, und hat die Literatur jemals etwas anderes getan, als wiederzuerzählen, was schon erzählt worden ist? „Wir haben unglaubliche Angst, dass uns etwas genommen wird, was möglicherweise viel weniger originell ist, als wir wahrhaben wollen.“

Wie originell aus Bekanntem Neues entstehen kann, demonstrieren die Lyriker Jan Wagner und Norbert Hummelt, die eine Reihe ihrer Kollegen eingeladen haben, auf die Dichtung des einen großen Jubilars dieses Jahres, Rainer Maria Rilke, schreibend zu reagieren. Aus der edlen Duineser Enigmatik horcht Norbert Lange eine „Dummkopfelegie“ heraus „mit Metren wie Schmachtfetzen“. Und bei Titus Meyer wird aus dem Evergreen: „Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehen“ ein Anagrammgedicht, das mit der Zeile endet: „Oh, du Sack, schlag mein Hirn aus, ich ende nie!“

Widerstand aus der bürgerlichen Mitte

Aber was ist das: „Diese Maschinen, wie klug auch immer sie gebaut sind, sie atmen nicht und sie träumen nicht.“ Diesen KI-generierten Rilke-Fake hat der neue Kulturstaatsminister Wolfram Weimer seiner Eröffnungsrede vorangestellt. Wie ein neuer van Helsing, der Gegenspieler Draculas, hat er dem „geistigen Vampirismus“ der das kreative Potenzial unzähliger kluger Köpfe absauge, den Kampf angesagt. Man müsse dem „digitalen Kolonialismus“ der Tech-Bosse entgegentreten. Seine Forderung nach einer strikten Regulierung, die die Urheberrechte von Schriftstellerinnen und Schriftstellern schützt, hört man hier erfreut. Als unsichtbarer Gast ist die KI auf allen Bühnen mindestens so gegenwärtig, wie Wolfram Weimer in realer Präsenz. Seine Rede hatte er mit dem selbst gedichteten Slogan beschlossen: „Wir sollten nicht vor Angst verzagen, sondern mehr Rilke wagen.“ Jetzt sitzt er auf einem Podium, um in Thomas Mann, dem anderen großen Jubilar des Jahres, einen Gewährsmann zu finden, für den Widerstand aus der bürgerlichen Mitte.

Im Gespräch mit dem designierten künftigen Vorsteher des Börsenvereins, Sebastian Guggolz, und der Schriftstellerin Nora Bossong zeigt sich, über welches Erneuerungspotenzial innerhalb des Bekannten das bloße Verstreichen der Zeit gebietet. In diesem Jahr sind vor allem zwei Facetten ins Zentrum gerückt, die die bürgerliche Mitte der Mann-Verehrung lange ausgeblendet hat: die Homosexualität als entscheidende Antriebskraft für sein Schaffen und der hochpolitische Kämpfer, der sich von dem früheren unpolitischen Betrachter radikal losgesagt hat.

Die Ukraine erinnert an Literaturschaffende, die im Krieg gefallen sind. Foto: IMAGO/HEN-FOTO

In Zeiten wie diesen, in denen die westlichen Gesellschaften in den Autoritarismus abzurutschen drohten und das demokratische Fundament erodiere, bedürfe es einer geistigen Quelle wie des großen Exilanten und Weltbürgers aus Lübeck: „Ich bewundere Thomas Mann als politische Figur, weil er geistigen Widerstand gegen die Nazis geleistet hat“, sagt Weimer und verkündet bei dieser Gelegenheit nebenbei in den Haushaltsverhandlungen für die Kultur den größten Etat aller Zeiten herausgeschlagen zu haben. Auch das hört man hier gerne.

Auf den Gängen tummeln sich erstmals auch Vertreter des rechtspopulistischen Nachrichtenerhitzers „Nius“: vor ihrer Kamera stramm frisierte Leute, die mit einem anderen Thomas Mann zu sympathisieren scheinen, als dem, den Weimer gegen sie in Stellung zu bringen hofft. Am Abend verleiht er den Deutschen Verlagspreis. Unter den drei Hauptpreisträgern ist der Tübinger Konkursbuchverlag. Zuvor hatte sich das Internetportal des früheren „Bild“-Scharfmachers Julian Reichelt darüber ereifert, die Auszeichnung, mit der insgesamt 80 Verlage unterstützt werden, fördere linksradikale, gewaltverherrlichende Tendenzen.

Pinnwand des Todes

Wohin wiederum illiberale Tendenzen führen, bezeugt die unsichtbare Anwesenheit Abwesender. Einer ist der algerische Dichter Boualem Sansal, dem in Frankfurt einmal der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Seinen Geburtstag, just am ersten Messetag, verbringt der in einem politischen Verfahren zu fünf Jahren Haft verurteilte krebskranke Autor in einem algerischen Gefängnis. An ihn erinnert sein Freund Kamel Daoud, der rechtzeitig nach Frankreich geflohen ist, denn sein Roman „Huris“ rechnet mit den schwarzen Jahren des algerischen Bürgerkriegs ab.

Vor einer Wand beim ukrainischen Stand steht ein Mann in Uniform. Er ist Verleger, aber wie viele aus dem literarischen Leben im Moment Soldat. Aber was heißt unter diesen Umständen literarisches Leben? An der Wand kleben Hunderte von Zetteln mit Namen von Schriftstellern, Lyrikerinnen, Essayisten, Verlegern, die ihr Leben im Krieg verloren haben. Eine Pinnwand des Todes.

Herzklopfen im Tiktok-Takt: Im Young-Adult-Bereich wird der Zaubertrank gebraut, an dem der Buchmarkt genesen soll. Foto: Andreas Arnold/dpa

Vielleicht kein Wunder, dass es junge Erwachsene in Fantasiewelten zieht, die ihren eigenen Gesetzen gehorchen. In einer etwas unwirtlich weiten Halle sind in kleinen hochdekorierten Hexenhäuschen die einschlägigen Labels untergebracht, Lyx, Everlove, Kyss und wie sie alle heißen, an deren Zaubertrank der Buchmarkt genesen soll. Wie an Flughäfen koordinieren Gurtabsperrungen die erwarteten Massen vorwiegend weiblicher Leserinnen, die an Schaltern wie Romantasy, Dark Romance, Spicy Erotic in bibliophil herausgeputzten Prachtausgaben den Abflug aus dem Alltag buchen. Herzklopfen im Tiktok-Takt.

Liest man hinein, meint man allerdings schon wieder den kalten Atem des unheimlichen Gastes im Nacken zu spüren. Fraglich, ob alles hier ein Gütesiegel für KI-freie Werke verdienen würde, das in einer Diskussion der grüne Kulturpolitiker Sven Lehmann vorgeschlagen hat. Um noch einmal Felicitas Hoppe zu zitieren, die das perfekte Desinteresse jüngerer Leute an einer Literatur wie der ihren beschrieben hat: „Wir verkehren in anderen Welten.“

Aber dann diese Szene. Auf der ARD-ZDF-Bühne plaudert Leif Randt gerade über seinen Roman „Let’s talk about feelings“. Früher dachte er, je älter, desto schlimmer, jetzt müsse er feststellen, es sei gerade umgekehrt: Mit 40 geht das Leben erst richtig los und wahrscheinlich werde es mit 50 immer besser. Ein älterer Herr lacht vergnügt vor sich hin und schreibt eifrig mit. Tatsächlich, es ist Rainald Goetz, der große Euphoriker und ewig junge Wilde der deutschen Pop-Literatur. Und wenn man sein Mienenspiel richtig liest, könnte man meinen: schöner als mit 71 kann es gar nicht werden.