Erinnerung an die Verlorenen: Bilder der Absturzopfer auf der zentralen Trauerfeier am Wochenende in Warschau. Foto: dpa

Vor einem Jahr starb der polnische Präsident Lech Kaczynski bei einem Flugzeugabsturz.

Warschau - Sie werden wieder marschieren, wie an jedem 10. eines Monats. Diesmal fällt das Datum auf einen Sonntag, das passt gut. Umso inbrünstiger werden die Gläubigen ihre Gebete murmeln, die Passionslieder anstimmen und ihre Rosenkränze kneten. Die Patrioten werden weiß-rote Nationalfähnchen schwenken und Plakate in die Höhe recken. Darauf wird wie stets Ministerpräsident Donald Tusk zu sehen sein, in inniger Umarmung mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. "Lügner" oder "Heuchler", wird darunter stehen.

Mehr als 100.000 Demonstranten, so schätzen die Behörden, werden am Sonntag durch Warschau ziehen, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen und ihrem Unmut Luft zu machen. An diesem Tag jährt sich die Flugzeugkatastrophe von Smolensk. Beim Absturz der polnischen Präsidentenmaschine im Westen Russlands waren am 10. April 2010 Staatschef Lech Kaczynski und 95 weitere hochrangige Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft, Kirche und Militär ums Leben gekommen.

Es war eine nationale Tragödie. Doch statt das Land zu einen, hat sich aus dem Gedenken an die Toten ein politisches Ränkespiel entwickelt, das Polen bis heute spaltet. Die Marschierer in Warschau gehören zum national-katholischen Lager. Monat für Monat ziehen sie vor den Präsidentenpalast und fordern eine geistig-moralische Wende. Meist sind es nur einige Hundert Demonstranten. Am Sonntag aber wollen sie in Massen aus dem gesamten Land in die Hauptstadt reisen.

"Skandal, der zur Katastrophe führte"

Sie werden sich wie immer um Jaroslaw Kaczynski scharen, den Zwillingsbruder des getöteten Präsidenten und Parteichef der rechtskonservativen PIS. In der Katastrophe von Smolensk sehen er und seine Gefolgsleute eine direkte Folge der "verräterischen antinationalen Politik" von Premierminister Tusk, hinter dem sich das junge, weltoffene und liberale Polen sammelt. Jaroslaw Kaczynski argumentiert, Tusk habe vor dem Unglücksflug "mit Hilfe Putins eine Intrige gegen seinen eigenen Präsidenten gesponnen".

Tatsächlich war Lech Kaczynski an jenem verhängnisvollen 10. April 2010 mit einer eigenen Delegation auf dem Weg zum Gedenken in Katyn. Dort, in den Wäldern nahe Smolensk, hatte Stalins Geheimpolizei 70 Jahre zuvor Zehntausende polnische Offiziere ermorden lassen. Auch dies war eine nationale Tragödie, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Polen eingebrannt hat. Premier Tusk aber fuhr drei Tage vor Kaczynski allein nach Katyn, um sich mit Putin zu treffen. "Das war ein Skandal, der direkt zu der Katastrophe geführt hat", sagt Jaroslaw Kaczynski heute. Die Fakten sprechen eine nüchternere Sprache. Auch wenn die Absturzursache noch immer nicht vollständig geklärt ist, lässt sich die Tragödie doch am ehesten als eine Verkettung unglücklicher Umstände und falscher Entscheidungen beschreiben.

Der Kaczynski-Flieger war nach mehreren missglückten Landeversuchen im dichten Nebel von Smolensk in eine Baumgruppe gerast und zerschellt. Fest steht, dass sowohl die polnischen Piloten als auch die russischen Fluglotsen unter Druck handelten. Im Cockpit drängte der angetrunkene polnische Luftwaffenchef den Kapitän zur Landung. Und im Tower hatte ein Offizier das Sagen, der sich nach Rücksprache mit Moskau nicht dazu durchringen konnte, den technisch miserabel ausgestatteten Flughafen zu sperren. Beide Seiten wollten angesichts eines drohenden Eklats den heiklen Präsidentenbesuch nicht gefährden.

Hoffen darauf, dass Thema den Polen überdrüssig wird

Diese Tatsachen interessieren Jaroslaw Kaczynski und seine Mitstreiter allerdings nur am Rande. Für Sonntag planen sie mehrere Messen und Manifestationen, die in einen abendlichen Fackelzug zum Präsidentenpalast münden sollen. Angefeuert werden die Marschierer von ultrakonservativen Medien wie dem fundamental-katholischen Sender Radio Maria. Die rechtsnationalen Zeitungen "Nasz Dziennik" und "Gazeta Polska" sorgen seit Wochen für patriotische Aufwallungen und hetzen gegen die "Feinde des Volkes". Gemeint sind damit zuallererst Tusk und sein Parteifreund Bronislaw Komorowski, der Nachfolger von Lech Kaczynski im Präsidentenamt. Komorowski hatte sich bei der Neuwahl nach der Flugzeugkatastrophe knapp gegen Jaroslaw Kaczynski durchgesetzt.

Am Sonntag zeigen sich Präsident und Premier bei offiziellen Kranzniederlegungen und überlassen das Feld ansonsten den Kaczynski-Anhängern. Sie hoffen darauf, dass die meisten Polen des Themas allmählich überdrüssig werden.