Ein Ausflug an den See sollte es werden, für wenige Stunden nur aus der Zelle raus und mit Frau und Kindern entspannen. Genutzt hat es ein bewachter verurteilter Mörder, um zu entkommen. Was ist bekannt?
Er könnte noch in Rheinland-Pfalz sein, vielleicht versteckt er sich auch in Baden-Württemberg oder er ist ins Ausland entkommen: Auch mehrere Tage nach seiner aufsehenerregenden Flucht während eines bewachten Ausflugs an einen rheinland-pfälzischen Baggersee fehlt von einem verurteilten Mörder aus der Justizvollzugsanstalt Bruchsal jede Spur. Der Fall hinterlässt viele Fragen.
Wie konnte das passieren?
Das scheint tatsächlich noch nicht geklärt. „Unser Fokus liegt aktuell ganz klar darauf, den Flüchtigen zu ergreifen“, sagt der Pforzheimer Staatsanwalt Henrik Blaßies. Dazu bündele man auch die Kräfte. „Die genaueren Umstände der Flucht werden wir später untersuchen.“ Unklar ist bislang unter anderem auch noch, ob dem Mann geholfen wurde, zu entkommen. Fest steht lediglich: Am Montag hielt er sich im Bereich des Baggersees in Germersheim - rund 30 Kilometer von Bruchsal entfernt - auf, er sollte seine Frau und seine Kinder unter Aufsicht zweier JVA-Beamter treffen. Er konnte in ein Waldstück entkommen - trotz elektronischer Fußfessel. Diese wurde wenig später im Stadtgebiet von Germersheim gefunden.
Gibt es irgendwelche Hinweise zum Verbleib des Mannes?
Zumindest nicht offiziell. Rund 50 Hinweise werden nach Angaben eines Sprechers des Landeskriminalamts verfolgt, darunter auch Aussagen von Zeugen, die den flüchtigen Mörder gesehen haben wollen. Es werde in alle Richtungen und teils auch verdeckt ermittelt, teilen zudem die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Pforzheim mit. Die Ermittlungen beschränken sich laut LKA nicht nur auf das Bundesgebiet, auch europaweit sei der Mann zur Fahndung ausgeschrieben. Bislang aber ohne Erfolg. Der Deutsch-Kasache ist verschwunden.
Warum saß der Mann in Haft?
Der 43-Jährige war 2012 wegen Mordes vom Landgericht Karlsruhe zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dabei war zwar die besondere Schwere der Schuld festgestellt worden, eine sogenannte Sicherungsverwahrung wurde dagegen nicht angeordnet. Für das Gericht stand fest, dass der damals 32-Jährige sein Opfer aus Pforzheim am 7. Januar 2011 nach Gotha gelockt, gefesselt und geschlagen hat. Danach fuhren er und eine mitangeklagte, damals 30 Jahre alte Frau mit dem verletzten Mann in die Südpfalz. Dort erwürgte er das Opfer. Nicht seine erste Haftstrafe wegen eines Gewaltverbrechens, wie die „Bild“ zuerst berichtete: Der Mann hat bereits wegen Totschlags im Gefängnis gesessen. Das Landgericht Gera hatte ihn 2003 zu acht Jahren verurteilt, nach fünf Jahren wurde er auf Bewährung freigelassen.
Wäre er demnächst eh freigekommen?
Nicht in den kommenden Jahren, nein. Eine lebenslange Haftstrafe kann frühestens nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Da er zwischenzeitlich noch eine weitere Freiheitsstrafe absitzen musste, ist die lebenslange Haft eigentlich ab Ende Oktober 2028 verbüßt. Eigentlich. Denn „eine sogenannte Mindestverbüßungsdauer für seine aktuelle Strafe ist bislang nicht vom zuständigen Gericht festgelegt worden“, sagt der Leiter der JVA Bruchsal, Thomas Weber, und betont: „Angesichts der oben erwähnten Haftdaten war auch in keiner Weise vorgesehen, den Gefangenen bereits jetzt auf eine mögliche Entlassung in unabsehbarer Zukunft vorzubereiten.“
Was macht ein verurteilter Mörder aus Bruchsal an einem Baggersee in Rheinland-Pfalz?
Das ist keineswegs so ungewöhnlich, betont die Staatsanwaltschaft. Das Gebiet „Sollachsee“ erschien zum einen für die JVA „eine geeignete Örtlichkeit“, sagte Weber. Zum anderen sei der Ausflug an den Baggersee eine „vollzugsöffnende Maßnahme im Sinne des Justizvollzugsgesetzbuchs Baden-Württemberg“. Ein Gefangener darf in diesen Fällen für eine bestimmte Tageszeit die JVA unter Aufsicht von Vollzugsbeamten verlassen. Auch der nun flüchtige Mann habe „die Mauern verlassen zur Wahrung seiner eigenen Menschenrechte“, sagt zudem Blaßies. „Das war jetzt kein Sonderfall.“
War er schon häufiger außerhalb der JVA?
Ja, seit Oktober 2019 durfte der Mann laut JVA in Begleitung von zwei bis drei JVA-Mitarbeitern auf insgesamt acht sogenannte Ausführungen. Dabei wurde er stets von seiner Frau und den beiden Kindern begleitet. Nie habe es Beanstandungen gegeben. Es sei bei solchen Ausführungen auch nicht vorgesehen, Gefangene an einen Bediensteten zu fesseln, sagte Weber.
Wie konnte es dem Mann gelingen, seine Fußfessel zu lösen?
Auch das gilt es nach Angaben der Behörden noch zu klären. Die elektronische Fußfessel des Mannes war kurze Zeit nach seiner Flucht im pfälzischen Germersheim gefunden worden. „Wie und möglicherweise mit welchen Hilfsmitteln sich der Gefangene der Fessel entledigen konnte, wird ebenfalls derzeit geprüft“, sagt Weber.
Wie funktioniert die elektronische Fußfessel?
Einmal angelegt, lässt sich die Fessel nicht mehr öffnen. Über Satellitensignal (GPS) kann der Träger jederzeit geortet werden. An Orten ohne GPS-Empfang läuft die Ortung über die Funkmasten der Mobiltelefone. Auf die Daten darf allerdings nur zugegriffen werden, wenn das System Alarm schlägt. Nach zwei Monaten müssen sie gelöscht werden. Die Fessel kann so programmiert werden, dass der Träger Zonen nicht verlassen oder nicht betreten darf, dafür lassen sich auch Zeiten festlegen. So kann zum Beispiel kontrolliert werden, dass sich jemand, der Kinder missbraucht hat, keinem Spielplatz mehr nähert.
Wer überwacht die Fußfessel-Träger?
Dafür gibt es eine zentrale Stelle in Hessen, die seit 2018 zum Schutz vor Anschlägen im Hochsicherheitsgefängnis in Weiterstadt untergebracht ist. In dieser „Gemeinsamen elektronischen Überwachungsstelle der Länder“ (GÜL) gehen sämtliche Alarm-Meldungen ein. Die Bewegungen der Träger sind dann auch auf einer Karte sichtbar. Bei Alarm wird der Träger in den meisten Fällen erst einmal auf dem Handy angerufen, denn oft schwächelt nur der Akku. Wenn nötig, alarmieren sie die Polizei.
Hat es zuvor schon mal einen ähnlichen Fall gegeben?
In diesem Jahr ist es laut Justizministerium die zweite Flucht während einer Ausführung, im vergangenen Jahr gab es keinen solchen Fall, im Jahr zuvor drei und im Jahr 2017 sogar acht. Im Vergleich der vergangenen zehn Jahre steigt diese Zahl also nicht. Mehr Fälle sind es im offenen Vollzug, der auch weniger kontrolliert wird. Dort registrierte das Ministerium bislang zehn Fälle in diesem und fünf im vergangenen Jahr, allerdings waren es in den Jahren zuvor meist zweistellige Zahlen.