Cate Blanchett hat ihre nächste große Rolle gefunden – als Chefdirigentin eines Berliner Orchesters in Foto: dpa///Florian Hoffmeister

Die 79. Internationalen Filmfestspiele von Venedig haben stark begonnen. Cate Blanchett spielt in „Tár“ furios eine Dirigentin zwischen großer Kunst und sprödem Missbrauch. Gibt das einen Preis?

Seit Jahren wird auf dem Lido über den Palazzo del Cinema, das Festival-Premierenkino, gestritten. Die einen fordern den Abriss des im klassischen Mussolini-Monumentalstil gehaltenen Filmpalasts. Mit der faschistischen Vergangenheit soll abgeschlossen werden, zeitgemäße funktionale Architektur zu besserer und reibungsloserer Bespielbarkeit führen. Die anderen wollen den durchaus imposanten Komplex erhalten und setzen sich für weitgehende Umbauten ein. Das Tauziehen zwischen den kulturpolitisch linken und rechten Lagern endete aber stets im Patt. Hauptgrund dafür ist, dass schlichtweg die finanziellen Mittel für jedwede Form von Neugestaltung fehlen.

 

Sonst machen hier die Skater Kunststücke

Dennoch hat sich nach dem vergangenen Jahr einiges getan. Eine neue Abspielstätte hat man hochgezogen, flammend rot und ebenfalls im kubistischen Stil gehalten wie der 2016 eingeweihte Sala Giardino. Gleich neben dem 1780 Personen fassenden temporären Zeltkino „Pala-Biennale“ findet sich diese, im Freiluftvelodrom, das sonst bevorzugt von jugendlichen Skatern genutzt wird.

340 Plätze hat der Sala Corinto, gezeigt werden hier Produktionen der inoffiziellen Nebenreihe Settimana Internazionale della Critica („Kritikerwoche“), darunter der deutsche, kontrovers diskutierte Science-Fiction-Liebesfilm „Aus meiner Haut“ von Alexander Schaad, sowie die restaurierten Meisterwerke der unter Cineasten beliebten Sektion Venedig-Klassiker. Eröffnet wurde hier mit Pier Paolo Pasolinis symbolbeladenem Melodram „Teorema“ (1968), das auf den damals 29. Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt wurde; gleichermaßen gefeiert wie angefeindet – und mit Laura Betti als liebestrunkener Dienerin eines Industriellenhaushalts, die dafür einst den Preis gewann.

Bob Wine ist ein Rapper aus Uganda

Alle Filmfans und Autogrammjäger sind glücklich, dass es aktuell keinen Sichtschutz mehr gibt zum roten Teppich. Ihren Stars können sie so vor den Premieren wieder ungehemmt zujubeln, mit etwas Glück sogar ein Selfie mit einem ihrer Lieblinge schießen. Bei den weiblichen Teenagern heiß begehrt: Timothée Chalamet („Dune“), Hauptdarsteller in Luca Guadaginos Kannibalen-Roadmovie „Bones and all“.

Ebenfalls im Autogrammjäger-Fokus: der ugandische Rapper Bobi Wine, Protagonist der packenden Dokumentation „Bobi Wine: Ghetto President“ von Christopher Sharp und Moses Bwayo. Die beiden Regisseure begleiten den Künstler, der Abgeordneter im Parlament seines Landes ist, und seine Frau durch deren gefährlichen Alltag, während sie sich für die Bürgerrechte in ihrer Heimat starkmachen und um die Absetzung des korrupten Staatspräsidenten kämpfen.

Cate Blanchett liefert eine One-Woman-Show

Besonders laut wurde Hollywoodstar und Oscarpreisträgerin Cate Blanchett begrüßt, Titelheldin in „Tár“, dem neuen Film von Todd Field, einem Künstlerdrama. Blanchett spielt hier eine Dirigentin, die als erste ihrer Zunft Chefin eines großen deutschen Orchesters wird. Mit ihrer Partnerin, der von Nina Hoss zurückhaltend, fast passiv verkörperten ersten Geigerin, bekommt sie Ärger, als sie sich in eine junge Cellistin verliebt. Noch schwerer aber wiegen die Rassismus- und Missbrauchsvorwürfe, die im Netz gegen sie erhoben werden. „Tár“ ist ein in der Welt der klassischen Musik, primär in Berlin, angesiedeltes Drama über Gleichstellung, Macht und Machtmissbrauch, eine fulminante One-Woman-Show, umgesetzt mit eisernem Stilwillen.

Eine Frau in der Krise ist auch „Monica“, die nach Jahren wieder heimkehrt, um ihre kranke Mutter (Patricia Clarkson), die sie als Teenager verstoßen hat, zu pflegen. Alte Wunden werden aufgerissen; um Familienbande und sexuelle Identität geht es beim italienischen Regisseur Andrea Pallaoro, der die Titelrolle – für die Handlung schlüssig und konsequent – mit der Transfrau Trave Lysette besetzt hat.

Man will ja nicht nur „berühmte Tochter“ sein

Mit ihrer Vergangenheit, genauer: mit ihrer Herkunft hadert im Wettbewerbsbeitrag auch „Vera“ in Person von Vera Gemma, Tochter des Italowestern-Stars Giuliano Gemma. Von allen wird sie, in die Jahre gekommen und in keinen nennenswerten Rollen mehr besetzt, ausgenützt. Der High Society Roms dient sie nur noch als Maskottchen. Ein autobiografisch anmutender Spielfilm, eine Art Dokudrama des italienisch-österreichischen Regiepaars Tizza Covi und Rainer Frimmel. Auf dem Friedhof sinniert die Hauptfigur darüber nach, ob wohl einst selbst auf ihrem Grabstein noch stehen wird „Berühmte Tochter von . . .“.

Ein Schicksal, das dem inzwischen 92-jährigen Hollywoodregisseur Frederick Wiseman gewiss nicht droht. In einer kleinen Gastrolle als Gynäkologe ist er kurz in Rebecca Zlotowskis neuem, anrührendem Liebesfilm „Les enfants des autres“ zu sehen; wie gewohnt wurde schon beim Vorspann von Zlotowskis jüngster Arbeit vom Publikum applaudiert.

Leo Tolstoi war auch nicht nett

Einen Spielfilm, 63 Minuten kurz, hat der Regieveteran Wiseman selbst aber auch auf den Lido mitgebracht: Im Ein-Personen-Monolog „Un couple“ erinnert sich Sophia (Nathalie Boutefeu) an ihre Ehe mit Leo Tolstoi. Sie zitiert, während sie durch die pittoresken Gärten der Insel Belle-Île vor der Küste der Bretagne wandelt, aus Briefen, die sich das Paar einst geschrieben hat. Szenen einer Ehe, bei denen der russische Dichterfürst wenig gut wegkommt und sich als eitler, unbeherrschter und eifersüchtiger Macho entpuppt.