Das Filmfestival Cannes endet mit einer Überraschung: Der Gewinnerfilm der Goldenen Palme, „Titane“, ist endlich wieder mal das Werk einer Regisseurin.
Cannes - Mit einer waschechten Überraschung gingen am Samstag die 74. Internationalen Filmfestspiele von Cannes zu Ende – und das auch noch auf ziemlich kuriose Weise. Normalerweise wird der Gewinner der Goldenen Palme zum Schluss der Preisverleihung bekannt gegeben, doch in diesem Fall verplapperte sich Jury-Präsident Spike Lee gleich zu Beginn. Die Frage nach dem ersten Preis des Abends missverstehend, antwortete er, offenkundig selbst irritiert: „Die Goldene Palme geht an ‚Titane’!“
Kein Fall von Gendergerechtigkeit
Tatsächlich war es dann die französische Regisseurin Julia Ducournau, die für „Titane“ den Hauptpreis mit nach Hause nehmen durfte, als überhaupt erst zweite Frau in der Festivalgeschichte. Jane Campion hatte sich 1993 ihre Goldene Palme für „Das Piano“ noch mit dem chinesischen Kollegen Chen Kaige teilen müssen; darüber hinaus wurden 2013 bei der Auszeichnung für „Blau ist eine warme Farme“ explizit die beiden Hauptdarstellerinnen als Mitgewinnerinnen genannt.
Um Gendergerechtigkeit sei es bei der Entscheidung für die erstmals im Wettbewerb vertretene Ducournau allerdings nie gegangen, betonte die in der Jury sitzende österreichische Filmemacherin Jessica Hausner in einer Pressekonferenz: „Dass eine Frau Regie geführt hat, kam in unseren Diskussionen ehrlich gesagt überhaupt nicht auf.“
Sex mit Frauen und Autos
Dass der Hauptpreis an „Titane“ ging, kam auch deswegen unerwartet, weil der Film kein typischer Wettbewerbsbeitrag ist und sein Publikum spaltete. Verdient ist die Auszeichnung genau deswegen: Ducournaus zweiter Spielfilm über eine Serienkillerin (Agathe Rousselle), die Sex mit Frauen genauso wie mit Autos hat und irgendwann als vermisster Sohn eines Feuerwehrmannes Unterschlupf findet, ist eine ungestüm aufregende Mischung aus Genre-Elementen.
Sex und Gewalt springen einem dabei ins Auge, doch mindestens so entscheidend sind die Momente von Zärtlichkeit und die Darstellung von Einsamkeit, eine doppelbödige Bildsprache und nicht zuletzt eben der dezidiert weibliche Blick der Regisseurin auf Körperlichkeit und Männlichkeitsrituale. Etwas vergleichbar Modernes und Frisches, das es obendrein vermochte, die fragwürdigen Coronamaßnahmen des Festivals dauerhaft als Gesprächsstoff Nummer Eins abzulösen, suchte man unter den 23 anderen Filmen im Rennen um die Goldene Palme vergeblich.
Es gab auch frischen Wind
Preiswürdige Beiträge gab es natürlich trotzdem genug, so viele sogar, dass Lee und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter in zwei Fällen doppelte Auszeichnungen vergaben. Der Große Preis der Jury ging an Asghar Farhadis Moral- und Gesellschaftsstudie „Ghahreman – A Hero“ und an „Hytti No. 6“ des Finnen Juho Kuosamen, ein liebevolles Freundschafts-Roadmovie. Neben Farhadi wurden noch weitere Cannes-Veteranen geehrt, die sich mit neuen Werken treu blieben: der aus Thailand stammende Apichatpong Weerasethakul, Palmen-Gewinner von 2010, erhielt für seinen gewohnt kontemplativen „Memoria“ mit Tilda Swinton in der Hauptrolle den Preis der Jury (gemeinsam mit „Ha’Berech“ von Nadav Lapid), während der Franzose Leos Carax für sein Musical „Annette“ den Regiepreis bekam.
Besonders verdient: der Darstellerinnenpreis für die norwegische Neuentdeckung Renate Reinsve, die mit spielerischer Leichtigkeit die Tragikomödie „The worst Person in the World“ auf ihren Schultern trägt. Deren Regisseur Joachim Trier ist zwar nicht zum ersten Mal im Wettbewerb vertreten gewesen. Zu den Filmemachern, die in diesem Jahr für dringend nötigen frischen Wind sorgten und auch Tage nach der Premiere noch in aller Munde waren, gehörte er trotzdem. Genauso wie der Australier Justin Kurzel, dessen Film „Nitram“ die Vorgeschichte eines Amoklaufs in Tasmanien 1996 erzählt. Die beklemmende Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt bescherte dem US-Schauspieler Caleb Landry Jones den Preis als bester Darsteller.
Eine neue Norm muss her
Dass zahlreiche der üblichen Verdächtigen – von Sean Penn über Nanni Moretti bis zu Bruno Dumont – in diesem Jahr mit ihren neuen Filmen enttäuschten und schließlich leer ausgingen, sollten man sich in Cannes und bei den anderen A-Festivals eine Lehre sein lassen. Sicherlich lässt sich nicht in jedem Jahr ein Ausnahmefilm wie Ducournaus „Titane“ entdecken, doch (auch) auf junge, unerfahrenere und nicht zuletzt nicht-männliche Filmschaffende zu setzen, sollte unbedingt die Norm werden, statt die Ausnahme zu bleiben.
Schließlich kann es kaum Zufall sein, dass in diesem Jahr in Cannes auch alle anderen wichtigen Preise – in der Nebenreihe Un Certain Regard (Kira Kovalenkos „Unclenching the Fists“), im Kurzfilm-Wettbewerb („All the Crows in the World“ von Tang Yi) und bei der Caméra d’Or („Murina“ von Antoneta Alamat Kusijanovic) an Arbeiten von Regisseurinnen unter 40 gingen.
Die Preisträger von Cannes im Überblick
Hauptpreise
Die Goldene Palme ging an „Titane“ von Julia Ducournau (Frankreich). Den Großen Preis der Jury erhielten zu gleichen Teilen „A Hero“ von Asghar Farhadi (Iran) und „Hytti No 6 (Compartment No 6)“ von Juho Kuosmanen (Finnland).
Darstellerpreise
Beste Darstellerin wurde Renate Reinsve mit „The Worst Person in the World“ von Joachim Trier (Norwegen), bester Schauspieler Caleb Landry Jones mit „Nitram“ von Justin Kurzel (Australien).
Debüt
Die Goldene Kamera für den besten Debütfilm errang „Murina“ von Antoneta Alamat Kusijanovi (Kroatien).
Sonstige
Den Regiepreis gewann Leos Carax mit „Annette“ (Frankreich), den Preis fürs beste Drehbuch bekamen Ryusuke Hamaguchi und Takamasa Oe für „Drive My Car“ (Japan). Der Preis der Jury ging zu gleichen Teilen an „Ha’berech (Ahed’s Knee)“ von Nadav Lapid (Israel) und „Memoria“ von Apichatpong Weerasethakul (Thailand).