Szene aus dem Drama „Living the Land“ des chinesischen Regisseurs Huo Meng Foto: Berlinale

Auf den Filmfestspielen in Berlin widmen sich auch in diesem Jahr wieder zahlreiche Produzenten den Krisenherden dieser Erde. Werke wie „Das Licht“, „Kein Tier so wild“ oder „Living the Land“ behandeln ernste Stoffe, in denen es um Menschlichkeit und Würde geht.

Am Nahostkonflikt und anderen Krisenherden rund um die Welt würde auf den 75. Internationalen Filmfestspielen in Berlin kein Vorbeikommen sein, das hatte die neue Festivalleiterin Tricia Tuttle bereits im Vorfeld ihrer ersten Berlinale prognostiziert – und dabei die Befürchtung geäußert, die Tagespolitik könnte das Kino aus dem Fokus verdrängen. Ob letzteres der Fall sein wird, bleibt abzuwarten. Doch mit ersterem behielt die Intendantin schon zur Festivaleröffnung am Donnerstag Recht.

 

Nachdem im vergangenen Jahr viele Reden bei der Preisverleihung als zu propalästinensisch verurteilt worden waren und gerade an das Leid der israelischen Hamas-Geiseln auf der Festivalbühne nicht erinnert wurde, rückte nun genau das in den Vordergrund. Tuttle und diverse Filmschaffende hielten auf dem roten Teppich vor dem Berlinale-Palast eine Mahnwache ab für David Cunio, einen israelischen Laiendarsteller, der am 7. Oktober 2023 von der Hamas entführt wurde. Cunio war 2012 als Schauspieler des Films „Youth“ von Tom Shoval zu Gast auf der Berlinale, in diesem Jahr läuft im Programm Shovals Dokumentarfilm „A Letter to David“.

Die Kraft der Berlinale

Auch Tilda Swinton ging dem Politischen dann nicht aus dem Weg. Nachdem sie den Goldenen Ehrenbären aus den Händen von Edward Berger (in dessen kommenden Film sie mitspielt) entgegengenommen hatte, mahnte sie in einer bewegenden Rede an, nicht länger zu ignorieren, dass an verschiedensten Orten auf der Welt Menschen von staatlich verübtem und international ermöglichtem Massenmord terrorisiert würden. Gleichzeitig feierte sie – zum Teil sogar auf Deutsch – in ihrem Plädoyer für die Menschlichkeit die inklusive Kraft der Berlinale und des Kinos und freute sich über die ungewohnten Schneemengen, die selbst den sonst wenig ansehnlichen Potsdamer Platz pünktlich zum Berlinale-Start in ein weißes Winterwunderland verwandelten.

Menschlichkeit und Weltpolitik waren dann auch Bestandteil des mit Spannung erwarteten, außer Konkurrenz laufenden Eröffnungsfilms „Das Licht“ von Tom Tykwer. Der Regisseur erzählt von einer Berliner Familie (mit Nicolette Krebitz und Lars Eidinger als Eltern) kurz vor dem Kollaps und ihrer neuen, aus Syrien stammenden Putzhilfe. Tykwer hat dafür sehr viele Ideen, von Musical-Einlagen über Abstecher nach Kenia bis hin zum Eintauchen in Virtual Reality-Game-Welten, doch ein in sich stimmiges Ganzes ergibt sich aus diesen – visuell oft eindrucksvollen – Ambitionen leider nur sehr bedingt. Und dass die von Tala Al-Deen stark gespielte Farrah letztlich vor allem dazu dient, die verwöhnte weiße und trotz allen aufgeklärten Denkens recht ignorante Familie in vielfacher Hinsicht zu „heilen“, wodurch ihr eigenes, unermessliches Leiden zum Mittel zum Zweck verkommt, ist dann doch eher fragwürdig.

Ziemlich wuchtig

Wuchtig und ambitioniert kommt auch „Kein Tier so wild“ daher, der neue Film des Berliner Regisseurs Burhan Qurbani, der anders als mit früheren Werken wie „Berlin Alexanderplatz“ dieses Mal nicht um den Goldenen Bären konkurriert. Er hat sich Shakespeares „Richard III.“ vorgenommen und in die Gangster-Welt der deutschen Hauptstadt versetzt. Die Yorks und die Lancasters sind nun arabischstämmige Clans – und mittendrin steht statt einem Richard die sehr ambitionierte Anwältin Rashida.

Qurbanis Hauptdarstellerin Kenda Hmeidan, die auch in „Das Licht“ eine kleine Rolle hat, trägt diesen Film mit einer Präsenz von geradezu magnetischer Wirkung, unterstützt von einem starken Ensemble, zu dem unter anderem Verena Altenberger und Weltstar Hiam Abbass gehören. Und sein Einfall, die Geschichte, bei nur leicht modernisiertem Text, in die Berliner Unterwelt zu versetzen, funktioniert bemerkenswert gut. Nur schade, dass er sich dabei selbst nicht ganz über den Weg zu trauen scheint und im überlangen Mittelteil seiner Geschichte eine zweite, theatrale Ebene einzieht, die eher an eine Bühnen-Inszenierung erinnert. Auch dadurch holt Qurbani aus dem Geschlechterwechsel im Zentrum vielleicht nicht alles heraus, was möglich gewesen wäre.

Einzige Filmhochschularbeit

Im Panorama feierte „Schwesterherz“ von Sarah Miro Fischer Weltpremiere, die einzige Filmhochschularbeit in den Hauptreihen der diesjährigen Berlinale. In ihrer Geschichte über eine junge Frau, die als Zeugin aussagen soll, als ihrem geliebten älteren Bruder eine Vergewaltigung vorgeworfen wird, trifft die junge Regisseurin viele sehr kluge Entscheidungen, und nicht zuletzt Marie Bloching in der Hauptrolle trägt deutlich zur Vielschichtigkeit und Besonnenheit dieses starken Debüts bei.

Ruhig und in vielerlei Hinsicht kontemplativ geriet unterdessen der Wettbewerbsauftakt am Freitagnachmittag mit dem chinesischen Film „Living the Land“. Huo Meng erzählt darin, wie zuletzt auch andere Regisseure aus seiner Heimat, von den einschneidenden Veränderungen, die China in den zurückliegenden Jahrzehnten durchgemacht hat, hier ausgehend von einem zehnjährigen Bauerssohn, den seine Eltern beim Wegzug in die Stadt bei der Verwandtschaft zurücklassen. Ein überzeugender, weil unaufgeregter und sehr genau beobachteter Start ins Rennen um die Bären.