Boris Palmer: „Warum trinken Sie Alkohol“ Foto: Peter Petsch

Eine Alkohol-Pause einlegen – dafür entscheiden sich viele Menschen. Gerade in der Fastenzeit. Mehrere Millionen Bundesbürger meiden Alkohol hingegen grundsätzlich. Viele von ihnen verzichten nicht, weil sie müssen, sondern weil sie wollen. Darunter sind bekannte Landespolitiker.

Stuttgart - Boris Palmer wundert sich über die Frage: „Warum trinken Sie keinen Alkohol?“ Seine Antwort besteht aus einer Gegenfrage: „Warum trinken Sie Alkohol?“

Für den Tübinger Oberbürgermeister müsste die zweite Frage vor der ersten stehen. Palmer spricht von einer „Verkehrung der Begründungslage“. Erklärungsbedürftig sei der Alkoholkonsum, nicht die Abstinenz, sagt der 40-Jährige, um sogleich „ein Dutzend Gründe“ zu nennen, warum er dem Alkohol entsagt.

Der wichtigste ist: „Mir schmeckt’s nicht.“ Auch mit Most kann der Sohn des einstigen Remstalrebellen und Pomologen Helmut Palmer nichts anfangen: „Unvergorener Apfelsaft ist viel besser“, sagt der Grünen-Politiker, der für sich in Anspruch nimmt, „schon immer gegen den Strom geschwommen zu sein“. Ein anderer Grund für seine Abstinenz: „Ich bekomm’ Kopfschmerzen davon.“ Zuletzt hat Palmer an seinem 20. Geburtstag Alkohol getrunken. Seitdem nie wieder. Fröhlich sein könne man auch ohne, sagt er: „Ich bin ohne lustiger als andere mit.“

Die Akzeptanz für ein Leben ohne Alkohol wächst

Grundsätzlich ist Alkohol für den Tübinger Rathauschef ein ernstes Thema. Das zeigt sein Vorstoß, einschlägig bekannten Personen den Alkoholkonsum auf öffentlichen Plätzen zu verbieten. Es schockiere ihn, „wenn die Polizei besoffene Zwölfjährige aufgreift“, sagt er. So etwas habe es früher nicht gegeben. Betroffen macht Palmer auch die Tatsache, dass Existenzen am Alkohol zerbrechen. Er wolle nicht „moralinsauer“ wirken, sagt er, aber mit Alkoholmissbrauch sei nun mal viel Gewalt verbunden – „im häuslichen Umfeld oder auf der Straße“.

Auf der anderen Seite stellt Palmer fest, dass die Akzeptanz für ein Leben ohne Alkohol wächst. Zumindest muss er bei Empfängen heute nicht mehr erklären, warum er zum Sprudelglas greift. „Sind Sie ein Mormone oder so etwas?“ Solche Fragen würden kaum noch gestellt. „Es gilt nicht mehr als Voraussetzung für gute Politik, dass man trinkfest ist.“

Diesen Satz kann Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid unterstreichen. Der 39-Jährige ist ebenfalls Abstinenzler. Vorzugsweise trinkt er stilles Wasser und grünen Tee. „Ich trinke keinen Alkohol, weil er mir schlicht nicht schmeckt“, gibt er zur Auskunft. Eine bestimmte Botschaft verbindet der SPD-Politiker damit nicht: „Ich gehe mit dem Thema ganz entspannt um. Ich gönne jedem sein Glas Bier oder Wein. Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden.“

Vielen Menschen schmeckt Alkohol nicht

Schmids Einstellung zum Alkohol hat sich allerdings noch nicht überall herumgesprochen. Im Umfeld des Ministers beobachtet man, dass er bei den Terminen häufig mit Weinpräsenten bedacht wird. Ein Saft-Bukett war noch nicht darunter. Schmid sieht auch das locker: „Weingeschenke betrachte ich als das, was sie sind, eine Geste der Wertschätzung, und freue mich darüber. Auch mit Bierkrügen hab’ ich kein Problem. Schließlich kann man auch mit Apfelschorle anstoßen – und Spaß haben sowieso.“

Ein weiterer Vertreter der jungen Politikergeneration ist Kultusminister Andreas Stoch. Auch er meidet Alkohol. Die Begründung des 43-Jährigen ähnelt der von Palmer und Schmid: „Ich trinke keinen Alkohol, weil er mir, egal in welcher Zusammensetzung, nicht schmeckt. In meinem Umfeld ist das absolut bekannt und akzeptiert. Ich habe auch noch nie das Gefühl gehabt, einem sozialen Druck zu unterliegen, Alkohol zu trinken.“

Wer nichts trinkt muss sich ständig rechtfertigen

Jugendliche machen andere Erfahrungen. Die Aufforderung: „Lass uns was trinken gehen“, bedeutet häufig nicht, freie Getränkewahl zu haben, sondern ist mit der Erwartung verbunden, Alkohol zu konsumieren. Wer statt Bier Bionade bestellt, riskiert, dumm angemacht zu werden oder als Spaßbremse dazustehen. Nur starken Persönlichkeiten macht es keine Mühe, sich dem Gruppenzwang zu entziehen.

„In solchen Situationen ist es schwierig, nichts zu trinken“, berichtet Max Vollmer. „Man muss sich ständig rechtfertigen.“ Der 27-Jährige ist Informatikstudent und Präsident des Vereins Juvente, in dem sich nach dem Vorbild Skandinaviens 50 Jugendliche und junge Erwachsene zusammengeschlossen haben, um auf Freizeiten oder bei anderen Treffen gemeinsam Spaß zu haben – nur eben ohne Alkohol. Auf der Homepage des Vereins heißt es: „Wir leben bewusst alkohol- und drogenfrei und bieten gleichgesinnten Jugendlichen eine Plattform, ebenfalls frei und unabhängig zu leben.“

Auf die Frage, warum er sich gegen Alkohol entschieden habe, reagiert Vollmer ähnlich wie Palmer. Sie stellt sich für ihn nicht, denn „ich hab’ mich ja nie dafür entschieden“. Die Juvente-Mitglieder kommen aus allen Teilen Deutschlands. Für ihre Abstinenz haben sie unterschiedliche Motive. „Einige sind durch ihre Familien vorbelastet, andere stammen aus Familien, in denen seit Generationen nicht geraucht oder getrunken wird“, sagt Vollmer. Er selbst meidet Alkohol, weil er damit Ethanol und Chemieunterricht assoziiert: „Ich hänge am Leben und möchte mich nicht selbst vergiften.“ Gleichwohl hat der Verein keinen missionarischen Anspruch. Man wirbt schon mal mit Infoständen: „Aber wir schlagen niemandem die Bierflasche aus der Hand.“

Weniger Alkohol trinken liegt im Trend

Keinen Alkohol zu trinken ist – wie bei Palmer, Schmid und Stoch – sehr häufig eine Geschmackssache. Mehrheitlich sind es Frauen, die den Geschmack von Alkohol nicht mögen – aus diesem Umstand resultierte die Erfindung des Likörs. Auch süß angereicherte Alkoholika manipulieren die Geschmacksknospen. Die Frankfurter Sozialpsychologin Irmgard Vogt nennt weitere Gründe, warum Frauen eher abstinent leben als Männer. Zum einen wirkten gesellschaftliche Konventionen nach – Frauen waren lange gehalten, wenig Alkohol zu trinken. Zum anderen hätten Frauen das Gefühl, unter Alkoholeinfluss die Kontrolle zu verlieren, sagt Vogt: „Das gefällt ihnen nicht.“

Der Berliner Kulturhistoriker Hasso Spode sieht einen generellen Trend, weniger Alkohol zu trinken – bis hin zur Abstinenz. Spode spricht von einer „Thematisierungskonjunktur“, die erstmals mit der Reformation eingesetzt habe: „Es gibt ein zyklisches Auf und Ab in der Debatte ums Trinken.“ Seit Mitte der neunziger Jahre stellt Spode eine Abkehr vom Hedonismus der Nachkriegszeit und der 68er Jahre zur Askese fest: „Im Schlepptau der Rauchverbote gibt es einen sehr besorgten Diskurs über das Übergewicht. “ Auch über den Alkohol. Geführt wird diese Debatte nach Spodes Beobachtung vor allem in den bürgerlichen Mittelschichten: „Dort herrscht jetzt Selbstbeherrschung und Askese vor. Man geht in den Bioladen und trinkt neuerdings auch keinen Alkohol mehr.“ Die Ursache dafür sieht Spode in den sozialen Abstiegsängsten des Mittelstands: „Die Mittelschichten greifen zur Askese, um zu zeigen, dass sie bessere Menschen sind.“ Nach einer Untersuchung des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2010 ist die Zahl der „Nietrinker“ in den sogenannten unteren Bildungsgruppen allerdings am höchsten.

Stärker rückläufig ist der Konsum von Nikotin und Cannabis

Sozialpsychologin Vogt spricht ebenfalls von einem kulturellen Trend. In der heutigen Leistungsgesellschaft könne man es sich nicht leisten, müde am Arbeitsplatz zu erscheinen. Gesundheit und Fitness hätten einen höheren Stellenwert bekommen. Vorausgegangen sei die gesellschaftliche Missbilligung des Rauchens. Ein solcher Wandel hat nach Meinung Vogts auch eine starke emotionale Seite. Sie nennt ein Beispiel: „Dass Raucher stinken, war vor 20 Jahren überhaupt kein Thema.“

Einen Trend zu weniger Alkohol erkennt Vogt auch bei den Heranwachsenden. Meldungen über jugendliche Komasäufer ergäben ein verzerrtes Bild. „Es gibt eine kleine Gruppe, die exzessiv trinkt, und eine große Gruppe, die deutlich zurückhaltender ist als vor zehn Jahren“, sagt die Sozialpsychologin. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bestätigt dies mit Zahlen. Bei der letzten Befragung (2011) gaben 14,2 Prozent der Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren an, regelmäßig (mindestens einmal pro Woche) Alkohol zu trinken. Zehn Jahre zuvor lag der Wert noch bei 17,9 Prozent. Bei den 18- bis 25-Jährigen liegt der Wert hingegen konstant bei knapp 40 Prozent. Stärker rückläufig ist der Konsum von Nikotin und Cannabis. Die Direktorin der Bundeszentrale, Elisabeth Pott, spricht von einer „Trendumkehr im Suchtmittelkonsum bei minderjährigen Jugendlichen“.

Auch gesamtgesellschaftlich wird diese Entwicklung anhalten, prognostiziert Spode. Er rechnet noch mit 10 bis 20 Jahren. „So lange bis das Thema irgendwann ausgereizt ist.“ Der Kulturhistoriker vergleicht die Entwicklung mit den dreißiger Jahren nach dem Fall der Prohibition in den USA: „Dieselben Schichten, die vorher für die Askese gekämpft hatten, konsumierten dann wieder Unmengen Whiskey und rauchten exzessiv. Bei den Nietrinkern Palmer, Schmid und Stoch würde das doch sehr verwundern.