Vielen Kindern, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, merkt man ihr Trauma eine Zeit lang gar nicht an. Foto: stock.adobe.com/Photographee.eu

Zahlreiche Minderjährige erleben sexualisierte Gewalt, oft begangen durch Menschen aus dem nahen Umfeld. Oft bleibt die Straftat jedoch unerkannt. Besonders durch die digitale Welt sind Kinder und Jugendliche zunehmend gefährdet.

Ein bis zwei Kinder pro Schulklasse seien deutschlandweit betroffen – laut Claudia Kanz ist sexualisierte Gewalt kein Einzelphänomen. Die Diplom-Pädagogin berät beim Verein „Feuervogel“Jugendliche ab 12 Jahren und Eltern von Kindern im Zollernalbkreis, welche diese Form der Gewalt erfahren mussten. Unserer Redaktion berichtet sie von ihrer Arbeit mit den Betroffenen:

 

Täter stammen häufig aus dem nahen Umfeld

Erwachsene, die Kinder sexuell missbrauchen, stammen häufig aus dem nahen Umfeld der betroffenen Minderjährigen, erklärt Kanz. Auch Freunde und Familienmitglieder seien laut polizeilichen Statistiken Täter – insbesondere bei Letzteren dürfte es jedoch eine hohe Dunkelziffer geben.

Ob die meisten von ihnen pädophil seien? Nein, klärt Kanz auf. Nur etwa zehn Prozent der Täter fielen in diese Kategorie, die meisten würden auch mit Erwachsenen sexuell interagieren, seien oft sogar verheiratet. Deren Motiv: „Macht und Kontrolle auf Menschen ausüben, die sich nicht wehren können.“ Neben älteren und Menschen mit Behinderung zählen dazu auch Kinder und Jugendliche, von denen überwiegend Mädchen sexuell misshandelt werden, wie Kanz berichtet. Doch auch dabei dürfte die Dunkelzahl bei Jungen höher liegen, handele es sich doch weiterhin um ein großes Tabu-Thema.

Digitale sexuelle Gewalt „gehört zur Lebenswelt“

Vor allem ab der weiterführenden Schule seien Kinder vermehrt von digitaler sexualisierter Gewalt betroffen, diese „gehört zur Lebenswelt“, wie die Pädagogin feststellt. Werden unter 18-Jährigen pornografische Inhalte zugeschickt oder auch nur gezeigt, handele es sich dabei um eine Straftat. Auch untereinander dürfen sich Minderjährige keine solchen Bilder zusenden, zumal dies „oft nicht einvernehmlich“ geschehe.

Schon im Kindergarten fangen sexuelle Übergriffe an

Kanz verweist auf die Speak-Studie aus dem Jahr 2018, die gezeigt haben soll, dass die befragten Jugendlichen hauptsächlich durch Gleichaltrige sexuellen Missbrauch erleben.

Solche Übergriffe unter Altersgenossen fänden aber auch schon im Kindergarten statt: Die Fachberaterin schildert, dass Kinder dazu gedrängt würden, Geschlechtsteile eines anderen Kindes anzufassen oder in den Mund zu nehmen.

Nicht jedem merkt man eine solch schreckliche Erfahrung an

Von Verdrängung bis zu massiven psychischen Störungen: Die Auswirkungen von sexualisierter Gewalt auf betroffene Minderjährige seien äußerst vielfältig, so Kanz. Vielen merke man ihr Trauma gar nicht an, andere würden aggressiv, entwickelten Schlafstörungen, Zwänge oder Süchte, „um die Erinnerungen wegzukriegen“.

Oft erkennen Außenstehende erst daran, dass etwas mit einem Kind oder Jugendlichen nicht stimme, erzählt Kanz. „Je jünger die Kinder, desto schwieriger wird es“, sagt sie und bezieht sich damit vor allem auf die noch wenig ausgeprägte Fähigkeit, von den Erlebnissen zu erzählen, sie überhaupt erst zu begreifen. Angehörige seien dann darauf angewiesen, dass Kinder Auffälligkeiten zeigen.

Erwachsene sollen „einfach auch mal zuhören“

Ihr Appell an die Erwachsenen: „Einfach auch mal zuhören“. Vertrauenspersonen sollten Kindern das Signal geben, dass sie ernst genommen werden und jederzeit über alles sprechen dürfen. Außerdem sollen jene zeigen: „Ich bin so stark, dass ich das aushalten kann.“

Bei Feuervogel werden Betroffene beraten, auch dazu, wie Angehörige mit der eigenen Betroffenheit umgehen können. Das Ziel sei stets, den sexuellen Missbrauch „so schnell wie möglich zu beenden“ und die Kinder zu schützen, berichtet Claudia Kanz über die Beratung. Ihr sei besonders wichtig, mit den Minderjährigen auf Augenhöhe zu kommunizieren, „so dass die Betroffenen nicht das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren“.

Außerhalb der Sprechzeiten von Feuervogel erfahren Betroffene unter dieser Telefonnummer Hilfe: 0800 / 22 555 30. Auch online unter www.hilfe-telefon-missbrauch.online kann man sich beraten lassen.

Diese Präventionsmaßnahmen gibt es

Kindergärten
Rund 70 Kindertagesstätten im Zollernalbkreis haben bereits an einer Fortbildung zum Thema teilgenommen. Dabei geht es unter anderem um die Unterscheidung zwischen Körpererkennungsspielen und sexuellen Übergriffen. Auch die Kindergartenkinder sollen bereits spielerisch lernen, sich zu schützen.

Schulen
Mit neunten Klassen an weiterführenden Schulen spricht Feuervogel über Pornografie, eigene Grenzen und Hilfsangebote. Laut Kanz „kommt das ziemlich gut an“, die Jugendlichen würden viele Fragen stellen und die Enttabuisierung von sexualisierter Gewalt schätzen.

Fachtag
 Am Montag, 18. November, findet in der Hohenzollernhalle Bisingen der landkreisübergreifende Fachtag „Hand in Hand“ statt. Schulleitungen, Bürgermeister oder auch die Justiz sollen für das Thema sensibilisiert werden, wie Andreas Karl Gschwind vom Wohlfahrtsverband „Der Paritätische“ berichtet.