Die Überschwemmungen in Teilen Brasiliens werden heftiger. Foto: //Claudia Martini

Vom Himmel fallende Vögel, austrocknende Seen, verheerende Stürme und Hochwasser: Die Klimakrise beherrscht Lateinamerika.

Riesige, in dieser Form historisch hohe Niederschlagsmengen ergossen sich dieser Tage über den brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Die Millionenstadt Porto Alegre wird wegen über die Ufer getretene Flüsse wohl noch Wochen unter Wasser stehen. Die Schäden gehen in die Milliarden. Straßen existieren nicht mehr, Ernten sind zerstört, Flugzeuge in den Flughäfen stehen unter Wasser, im Fußballstadion wabert eine braune Masse. Erst langsam wird den Menschen klar, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Und zur Naturkatastrophe kommen auch noch menschliche Abgründe: Aus einigen Notunterkunftslagern werden Vergewaltigungen gemeldet.

 

„Die Katastrophe ist auf das Zusammentreffen mehrerer Faktoren zurückzuführen“, sagt die brasilianische Geografin Karina Lima im Gespräch mit unserer Zeitung. „Das Wetterphänomen El Niño ist immer noch präsent und begünstigt mehr Regen in der Region. Und dann gab es einen Korridor, der Feuchtigkeit aus dem Amazonasgebiet brachte, sowie atmosphärische Blockaden aufgrund der warmen Luftmasse über dem Zentrum des Landes.“ Das alles führte zu extremen Regenmengen über Rio Grande do Sul. Lima macht zudem den Klimawandel für die Entwicklung verantwortlich: „Die Erwärmung der Atmosphäre und der Ozeane aufgrund der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung erzeugt die Energie für diese extreme Ereignisse.“

Ähnlich sieht es der brasilianische Umweltwissenschaftler Marcelo Dutra (48): „Es ist die Mischung von Klimawandel und Wetterphänomen. Und das bedeutet, dass Ereignisse wie sehr viel Regen in Zeiten von El Niño oder Dürren in Zeiten von La Niña vom Klimawandel noch einmal verstärkt werden.“ Dutra erklärt: „Was wir in Rio Grande do Sul spüren, wird wahrscheinlich auch in anderen Teilen der Welt zu spüren sein. Belastungen durch extrem hohe Temperaturen, durch Winde, die weit über ihre bisherige Geschwindigkeit und Kraft hinausgehen, oder sehr starke Regenfälle in kurzer Zeit. Das alles ist kein Zufall. Wir werden uns darauf einstellen müssen.“ Es sind Warnungen, die auch für Deutschland gelten, wie sich zuletzt bei den Hochwassern im Saarland und anderswo im Südwesten zeigte.

Warum es in Brasilien nun ausgerechnet den Bundesstaat Rio Grande do Sul so dramatisch getroffen hat, erklärt Dutra mit der außergewöhnlichen geografischen Lage: „Die südlichen Regionen sind während La Niña weniger anfällig für intensive Regenfälle. Aber jetzt, während El Niño, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für starke Regenfälle. Wir sind also genau im Visier des Klimawandels. Und deshalb müssen wir uns möglicherweise viel mehr anpassen als andere Regionen. Unsere Lage ist unser Pech.“

Wer den politischen Preis für diese Entwicklung zu bezahlen hat, ist noch offen

Das alles wird nach Einschätzung von Dutra zu einer völlig neuen Vorgehensweise beim Wiederaufbau der Region führen: „Wir können nicht mehr die gleiche Brücke an die gleiche Stelle setzen oder die Brücke auf die gleiche Weise, in der gleichen Größe bauen. Wir brauchen eine viel robustere und sicherere Straßeninfrastruktur. Und wir können nicht länger Wohngebiete in der Nähe von Gewässern an Stellen errichten, die nicht durch einen bestimmten Abstand geschützt sind und von denen wir bereits wissen, dass das Wasser bei einem sehr extremen Regenereignis dort zuerst eintrifft.“

Wer den politischen Preis für diese Entwicklung zu bezahlen hat, ist noch offen. Brasiliens Präsident Lula da Silva bemüht sich um ein Krisenmanagement, sagt Hilfsgelder zu. Aber auch für ihn wie für die Vorgängerregierungen gilt: Eindringliche Warnungen wie die von der heutigen Umweltministerin Marina Silva, die die Schaffung einer Klimabehörde forderte, um vor solchen Extremwetterereignissen zu warnen, wurden ignoriert. Auch von Lula.

Ganz Lateinamerika erlebte jüngst eine immer kürzere Abfolge dramatischer Ereignisse. In der mexikanischen Region Huasteca Potosina etwa lassen gefühlte Temperaturen von 55 Grad die Mönchssittiche abstürzen: Dutzende der grünen Papageien sind ebenso wie Tukane laut „El Universal“ vom Himmel gefallen. Einige dehydriert, andere tot.

Rund 3500 Kilometer südlich in Costa Rica sorgten zuletzt ausbleibende Regenfälle dafür, dass die Stauseen immer leerer wurden. Weil das mittelamerikanische Land aber fast komplett auf erneuerbare Energien setzt, soll nun der Strom zum ersten Mal seit 2007 rationiert werden. Die zuständigen Behörden führen die dramatische Situation auf das Wetterphänomen „El Niño“ zurück, das seit Mitte 2023 ein Niederschlagsdefizit von 40 bis 70 Prozent verursacht habe.

In Lateinamerika sind die Folgen der Wetterphänomene „El Niño“ und „La Niña“ besonders drastisch: Bei El Niño kehrt sich das normale Strömungssystem des Pazifiks um. Dadurch wird der Osten warm und feucht, der Westen trocken. Bei La Niña wird dagegen das normale Strömungssystem ins Extrem verstärkt – der Westen wird ungewöhnlich warm und feucht, der Osten ungewöhnlich trocken.

Mittelamerika erlebte zuletzt nicht nur Dürren oder Regenfälle: Verheerende Tropenstürme und Hurrikans sorgten in Honduras, El Salvador und Guatemala für Zerstörungen und Ernteausfälle. Und sie sind ein Motor für die Migration Richtung Norden.

Vor über hundert Jahren zählte Venezuela noch sechs Gletscher

Neu sind solche Verhältnisse nicht, aber ihre Ausprägung und Häufigkeit werden immer auffälliger. In Uruguay schlugen die Behörden im vorigen Jahr Alarm, weil das Trinkwasserreservoir für die Hauptstadt Montevideo wegen einer anhaltenden Dürre zu versiegen drohte. Wasserhähne röchelten bedrohlich, die Regierung mischte schließlich Wasser des Rio de la Plata dazu. Auf den letzten Drücker begann es zu regnen, Uruguays Metropole entging nur knapp einem Desaster.

Auch in den Anden sind die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren. Hier drohen Geisterdörfer wie im argentinischen Skigebiet „Los Penitentes“. Dort wachsen auf dem verwaisten Marktplatz inzwischen Gräser und Blumen. Einst war dort das Skisportvorzeigeprojekt des Landes, doch dann fiel immer weniger Schnee. Das Wintersportgebiet liegt auf einer Höhe von 2579 bis 3194 Metern zu Füßen des Aconcagua, dem mit 6961 Metern höchsten Gipfel Amerikas. Eine Mischung aus Klimawandel und Misswirtschaft haben „Los Penitentes“ inzwischen zu einer Tourismusruine gemacht. Zum Skifahren und Snowboarden stehen eigentlich rund 25 Kilometer Piste zur Verfügung. Lifte könnten Gäste befördern. Doch es fällt seit Jahren einfach nicht mehr genügend Schnee. „Es ist in den vergangenen fünf Jahren immer schlimmer geworden“, sagt Bewohnerin Veronica Tsallis. Ihr Dorf sei zu einem Ort ohne Zukunft geworden. Ein Mahnmal für die Veränderung des Klimas.

In Venezuela ist die Entwicklung schon weiter. Der Humboldt-Gletscher, auch bekannt als La Corona, bedeckte einst 4,5 Quadratkilometer Fläche. Heute existiert nur noch ein kleiner Bruchteil davon. Vor über hundert Jahren zählte Venezuela noch sechs Gletscher mit einer Gesamtfläche von 1000 Quadratkilometern. Dann wurde Öl gefunden. Und nun droht ausgerechnet das ölreichste Land der Welt einen hohen Preis für das eigene Geschäftsmodell zu bezahlen: Es wäre das erste Land der Moderne weltweit, das alle seine Gletscher verloren hat.