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In der Stadt, die die kinderfreundlichste Deutschlands werden will, leben viele junge Menschen gefährlich. Das Kindeswohl war allein in der ersten Jahreshälfte 920 Mal gefährdet.

Stuttgart - In der Stadt, die die kinderfreundlichste Deutschlands werden will, leben viele junge Menschen gefährlich. Das Kindeswohl war allein in der ersten Jahreshälfte 920 Mal gefährdet. Die sozialen Dienste verzeichnen zunehmend belastende Lebensumstände für die Familien.

Wenn Mitarbeiter des Sozialen Dienstes Familien aufsuchen, stoßen sie auf erschütternde Verhältnisse: Wohnung vermüllt, Eltern teilnahmslos, die Schlafstätte des Kleinkinds verdreckt, das Mobiliar kaputt. Im schlimmeren Fall haben Säuglinge zu wenig zu trinken bekommen oder leiden körperlich und seelisch unter Verwahrlosung.

Diese Beobachtungen finden sich in Stuttgarter Kinderschutzbögen. Nach dem Tod eines misshandelten Kindes, dessen Mutter vom Jugendamt betreut worden war, wurde diese Dokumentation vor sechs Jahren eingeführt - zum Kinderschutz, aber auch zum Schutz der Mitarbeiter. Das Deutsche Jugendinstitut München hat die Bögen überprüft und als aussagekräftig eingestuft.

In 873 Fällen haben die Mitarbeiter im Jahr 2008 ein Kreuzchen bei der Rubrik Kindeswohlgefährdung gemacht. Dazu zählt sowohl die körperliche als auch die seelische Vernachlässigung von Kindern, die Zahl enthält zudem Fälle von körperlicher Misshandlung. Nun ist die Häufigkeit solcher Beobachtungen auf 920 Fälle angestiegen - ein vorläufiger Höhepunkt, der bereits im Juli 2009 erreicht war. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, dann hätten sich die Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt.

"Der Paragraf 8a des Kinder- und Jugendhilfegesetzes greift endlich", sagt Regina Quapp-Politz vom Jugendamt. Darin ist festgehalten, dass das Amt und die freien Träger gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Kindeswohls abzuschätzen haben, den Familien Hilfen anbieten müssen und bei Bedarf das Gericht anrufen müssen. Außerdem, so Quapp-Politz, sei das Thema Vernachlässigung und Misshandlung "aus der Tabuzone heraus".

Gleichzeitig steigt der Beratungs- und Unterstützungsbedarf in Familien. Im vergangenen Jahr hat der Soziale Dienst 13,3 Prozent mehr Kontakte zu Familien mit Kindern gehabt als noch in den vergangenen zwei Jahren, im selben Zeitraum stieg die Zahl der Kinder, deren Familie von staatlichen Transferleistungen wie Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld abhängig sind, um 31,4 Prozent.

Ungesicherte finanzielle Verhältnisse okkupieren die Aufmerksamkeit der Eltern oft in zu hohem Maß, in vielen Fällen registrieren die Mitarbeiter weitere Überforderungen: "Viele lesen in Büchern nach, was zu tun ist, wenn der Säugling schreit. Funktioniert es dann nicht wie beschrieben, haben sie keine Mutter, Tante oder Großmutter, die sie um Rat fragen könnten. Bestraft wird dann das Kind, weil's nicht funktioniert." Quapp-Politz schildert "erschütternde Szenen aus unseren Notaufnahmeheimen, wo Mütter ihr Kind wickeln, ohne mit ihm zu schmusen oder zu reden". In zehn Prozent der Gefährdungsfälle im Jahr 2008 wurde das Sorgerecht auf das Jugendamt übertragen, 54 Schutzbefohlene wurden laut Stuttgarter Polizeistatistik im Jahr 2008 misshandelt.

Die Mitarbeiter der Sozialen Dienste und des Jugendamts setzen auf frühes Eingreifen bei den Familien, um Vernachlässigung, Misshandlung oder Sorgerechtsentzug zu vermeiden. Sie schulen Eltern in Seminaren, beraten in zunehmend komplexeren Problemlagen. Ausgerechnet die Beratungsstellen für Familien und Erwachsene sollen aber 230.000 Euro zum Sparen beitragen. Dabei liegt die Personalausstattung im Vergleich mit Großstadtjugendämtern in Stuttgart im hinteren Drittel. 16,5 weitere Stellen hält die Fachverwaltung für dringend notwendig, darin eingeschlossen 6,5 Stellen am Olgahospital, um den Informationsaustausch und die Betreuung bei Misshandlungsfällen zu sichern. Ob es dafür im Gemeinderat Mehrheiten gibt, ist offen.