Habeck hatte auf Anfrage der Ermittler den bei Beleidigungsdelikten erforderlichen Strafantrag gestellt. Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Jahrzehntelang hat er Recht gesprochen, jetzt sitzt ein 79-Jähriger in Reutlingen selbst auf der Anklagebank. Grund: ein Schmähgedicht auf den Bundeswirtschaftsminister. Wo endet die Meinungsfreiheit?

Alte zornige Männer – und ein paar Frauen – drängen in den Sitzungssaal III am Reutlinger Amtsgericht. Und auch auf der Anklagebank sitzt ein alter zorniger Mann. Werner H. wird bald 80. In Gerichtssälen kennt er sich aus. Früher saß er vorne auf dem Richtersessel, zuletzt 20 Jahre lang bei einer Zivilkammer des Stuttgarter Landgerichts. Dass er nun angeklagt ist, ist für die baden-württembergische Justiz insofern ein wenig peinlich, für ihn selbst aber fast schon eine Majestätsbeleidigung. „Sie sollten sich wegen dieser Anklage in Grund und Boden schämen“, ruft er dem Staatsanwalt zu.

 

Richterin Selina Domhan könnte seine Tochter, fast seine Enkelin sein. Seelenruhig führt sie durch die Verhandlung, bei der viel politisiert wird, es im Kern aber um ein Stück Prosa geht. Das hat H. im vergangenen Sommer per Email verschickt und es beschäftigt sich auf wenig freundliche Weise mit dem Wirken von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Als „Vollidiot“ wird der Grüne mehrfach betitelt, er sei „beliebt wie Hundekot – nur schwerer abzuschaben“.

Die bayerische Staatskanzlei findet das Gedicht nicht lustig

Die Tübinger Staatsanwaltschaft sieht darin eine Beleidigung, der Ex-Richter hingegen einen Beitrag, der unbedingt der Meinungsfreiheit unterliegt. Mehr noch: „Jeder sollte das machen, dann wäre Habeck längst weg“, sagt er. Im Übrigen sei das Gedicht nicht von ihm, sondern erkennbar ein Zitat. Und gut sei es auch nicht, nur spaßig. Deshalb verbreitete er es an einen großen Empfängerkreis und auch an die bayerische Staatskanzlei. Deren Humor traf es nicht, obgleich man den Grünen in München nicht unbedingt wohlgesonnen ist. Das Schreiben wurde umgehend zu Ermittlungen nach Baden-Württemberg weitergeleitet.

Ob man einen Politiker ungestraft „Vollidiot“ nennen darf, dazu gab es zuletzt unterschiedliche Ansichten. Erst im Januar stellte die Hamburger Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Geringfügigkeit ein. Auch dort war es um Habeck gegangen. „Schmeißt diesen Vollidioten endlich raus“, hatte ein Mann getwittert. Im Reutlinger Fall sei es die Gesamtschau, die ihn justiziabel mache. Habeck hatte zuvor – auf Anfrage der Ermittler – den bei Beleidigungsdelikten erforderlichen Strafantrag gestellt.

„Eine Frechheit, einem Ex-Richter nicht zu glauben“

Hinzu kommt ein zweites Verfahren wegen Volksverhetzung. Auf Facebook soll der Ex-Richter, der bevorzugt Inhalte von AfD und Verschwörungstheoretikern teilt, Ausländer pauschal als „Kanaken“, „Vergewaltiger“ und „Abschaum“ bezeichnet haben – versehen mit einem grummelnden Emoji. Ja, er verbringe – zumindest aus Sicht seiner Frau – zu viel Zeit auf Facebook. Aber „so einen Dreck schreibe ich nicht“, beteuert er. Und wie man so ein Emoji setze, wisse er sowieso nicht. Offenbar habe jemand seinen Account benutzt, der ihm schaden wolle – „vielleicht die Grünen“.

Für den Staatsanwalt bewegt er sich damit „fast am Rande der Albernheit.“ Bei Werner H. ist der Kollege da längst unten durch. „Wie kommen Sie darauf, einem ehemaligen Richter nicht zu glauben?“ Allerdings fällt das auch Richterin Domhan schwer. Wegen Beleidigung und Volksverhetzung verurteilt sie den Angeklagten zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu 130 Euro (7800 Euro).

Der Psychiater hält ihn für normal

Zuvor stellt ein Psychiater die Schuldfähigkeit des Angeklagten fest. „Krankhaft verrückt ist er nicht“, im Alter akzentuierten sich aber bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, sagt der Arzt trocken. Es sei bedauerlich zu erleben, wie ein Mann, der zufrieden auf sein Lebenswerk blicken könnte, sich hartnäckig in Kämpfe einarbeite, die nichts als Ärger brächten. Das wird sich wohl nicht ändern. Gegen das Urteil will er Berufung einlegen. Und ermittelt wird auch schon wieder. „Durchgeknallt“ hat er den zuständigen Staatsanwalt genannt.