Gedächtniswunder: Boris Nikolai Konrad Foto: Kistner

Die Textilindustrie der Region und des Landes ist es gewohnt, Herausforderungen zu bestehen – allerdings waren es selten so viele und so große wie zurzeit.

Albstadt-Ebingen - Die Diagnosen, die Bodo Bölzle, Präsident des Industrieverbands Südwesttextil, und Martina Bandte, die Vorstandsvorsitzende der Fachvereinigung Wirkerei-Strickerei, bei der gemeinsamen Jahrestagung beider Verbände im Ebinger Haux-Gebäude der Hochschule Albstadt-Sigmaringen stellten, fielen weitgehend identisch aus. Seit zwei Jahren macht Corona der Branche zu schaffen; ein Ende ist nicht wirklich abzusehen.

Noch wesentlich schwerer schlägt nun der Ukraine-Krieg ins Kontor, der die Preise für schon zuvor teure Energie weiter in die Höhe treibt. Die Lehre, welche laut Bölzle auch die Textilindustrie aus der Krise ziehen muss, ist, Abhängigkeiten zu verringern, und zwar nicht nur von den Russen, sondern auch von China, der anderen unkalkulierbaren Größe der Weltpolitik.

Der Klimawandel verlangt dauerhaft nach neuen Lösungen, und das gleiche gilt für den Fachkräftemangel, den Bandte auf ihrer Problemliste ganz oben platzierte.

Bitte weniger statt mehr Bürokratie!

Die Vorstandsvorsitzende der Fachvereinigung sparte in diesem Zusammenhang nicht mit Kritik an der Politik und der Gesetzgebung: Weniger Bürokratie wäre das Gebot der Stunde; stattdessen würden den Textilunternehmen immer neue Dokumentations- und Kontrollpflichten auferlegt. "Auf die Frage, woher wir das Personal dafür nehmen sollen, dürfen wir die Antwort allein finden."

Die Sozialpartner verlangten zu allem Überfluss einen Inflationsausgleich von den Arbeitgebern, die gar nichts für die hohen Preise könnten – die Forderung sei vielmehr an die Fiskalpolitik zu richten. Zudem gelte ganz grundsätzlich, dass nicht die Inflation ausschlaggebend für die Höhe der Lohnabschlüsse sein müsse, sondern die Produktivität. Bandtes abschließendes Fazit: Auch künftig stelle sich die Aufgabe, unter Einhaltung der sozialen wie der Umweltstandards konkurrenzfähig zu bleiben – leicht werde das ganz gewiss nicht.

Typisch Geheimdienstmann

Der erste Vortragsredner des Abends sprach zum Thema; allerdings klang, was er zu sagen hatte, nicht sonderlich ermutigend. Rüdiger von Fritsch war von 2014 bis 2019 deutscher Botschafter in Moskau; von ihm erhofften sich die versammelten Industriellen und ihre Gäste Aufschluss über die Motive der russischen Aggression und die Chancen, sie zu beenden.

Zu den Motiven: Wladimir Putin und viele seiner Landsleute, so Fritsch, hätten den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als Aufbruch in eine neue, vielleicht bessere Zeit erlebt, wie es der Westen tat, sondern als traumatisierende Demütigung der russischen Nation.

Die erlittenen Einbußen an Macht, Einfluss und Territorien versuche Putin nun wieder rückgängig zu machen – "sein Ziel ist Unterjochung" –; dabei sei er – typisch Geheimdienstmann – blind dafür, dass die Sowjetunion nicht an westlicher Tücke und Bosheit, sondern an ihren eigenen inneren Widersprüchen zugrunde gegangen sei.

Wie sich jetzt zeige, habe Putin seine militärischen und ökonomischen Möglichkeiten maßlos über- und die Ukraine und den Westen unterschätzt, aber nachdem er sich selbst die Latte so hoch gelegt habe, stehe er unter gewaltigem Erfolgsdruck. Das mache es praktisch unmöglich, einen Kompromiss auszuhandeln: Wo die Positionen so weit auseinander lägen wie die der Ukraine und Russlands, seien Vermittler chancenlos. "Dieser Konflikt wird noch länger dauern."

Wer sitzt in zwei Jahren im Weißen Haus?

Und wie wird die Welt aussehen, wenn er zu Ende ist? Nicht grundlegend anders als vor dem russischen Überfall, prognostiziert Fritsch. Global Player würden China und der Westen bleiben; Russland dagegen habe sich selbst marginalisiert und international isoliert, statt an die Wurzel seiner Übel – Kleptokratie, Misswirtschaft und die Beschränkung auf die Rolle des Rohstoffexporteurs – zu gehen.

Die Globalisierung werde – und dürfe – nicht rückgängig gemacht werden; allerdings werde es zu einer Gegenbewegung und Entflechtung der Abhängigkeiten kommen; das habe sich schon während der Coronavirus-Pandemie angedeutet. Auch China sei schließlich Kontrahent und Taiwan die chinesische Ukraine; welchen Weg China beschreiten werde, sei ebenso wenig abzusehen wie die weiteren Entwicklungen in den USA: "Wir wissen nicht, wer in zwei Jahren im Weißen Haus sitzt."

Für Europa gelte deshalb: "Es muss endlich außenpolitisch handlungsfähig werden." Und dabei auf alle Eventualitäten gefasst sein.

Auch Gedächtnis-Weltmeister vergessen mal etwas

Nach so vielen düsteren Perspektiven kam der zweite Referent des Abends wie gerufen. Boris Nikolai Konrad ist Neurowissenschaftler, Physiker, Autor und mehrfacher Weltmeister im Gedächtnissport; er trat ansteckend gut gelaunt auf und demonstrierte zuerst einmal, was ein gutes Gedächtnis ist: Schon früher am Tag hatte man im Rahmen einer Führung durch die Labore der Hochschule die Gelegenheit gehabt, sich kennenzulernen; Konrad bat alle, die sich ihm vorgestellt hatten, aufzustehen, und begrüßte sie dann namentlich.

Nur ein einziger Name war nicht mehr ganz gewärtig, und zwar ausgerechnet der von Rainer Lopau, dem früheren Geschäftsführer der Fachvereinigung. Es folgten Ausführungen zu den Hirnfunktionen, Trainingseinheiten fürs Kurzzeitgedächtnis – und abschließend ein Geständnis: Auch der Weltmeister vergisst mal etwas. Vor Jahren war Konrad vom TV-Morgenmagazin buchstäblich aus dem Bett geklingelt worden, weil er zuvor das Schellen des Weckers ignoriert hatte – ihm war einfach nicht mehr eingefallen, warum er ihn gestellt hatte.