Die Schriftstellerin Eva Menasse hält die gegenwärtig tobende Antisemitismus-Debatte für typisch deutsch. Was das bedeutet, wie es beim PEN Berlin weitergeht und warum wir unbedingt Mechtilde Lichnowsky lesen sollten, erklärt sie im Gespräch.
Eigentlich würde sie trotz der hohen Temperaturen am liebsten in ihrem Ferienhaus in Brandenburg sitzen und Bücher schreiben. Einmischen will sich Eva Menasse nur, wenn sie das Gefühl hat, dass irgendetwas total falsch läuft. Und das ist in diesen Tagen so einiges.
Frau Menasse, sind Sie auch schon einmal für eine Antisemitin gehalten worden, immerhin wenden Sie sich gegen die kulturpolitische Ächtung der israelkritischen BDS-Bewegung?
Ich verfolge die asozialen Medien nicht, ich weiß aber, dass es da Einträge gibt, in denen ich zumindest schon als Antizionistin diffamiert worden bin.
Sie beklagen in der Documenta-Debatte von Beginn an einen symbolpolitischen Rigorismus, der ablenkt vom wirklich alltäglichen Antisemitismus. Hängt das eine nicht mit dem anderen zusammen?
Mir geht es um die Gewichtung. Wenn wir in Deutschland Angst vor der Wiederkehr des Antisemitismus haben, müssen wir doch sagen, welchen wir damit meinen. Nämlich den eliminatorischen Antisemitismus, wegen dem Deutschland für immer in der Geschichte markiert bleiben wird: Juden hetzen, quälen, umbringen. Diesen gibt es immer noch, die Täter sind eine harte, kleine Minderheit von Rechtsradikalen – und brandgefährlich, siehe Halle. Wir aber diskutieren bis in die hysterischsten Details über linken kulturellen Antisemitismus. Darüber kann man schon reden, aber seit der Documenta beziehungsweise seit der Anti-BDS-Resolution des Bundestags vor drei Jahren fehlt der Debatte jede Verhältnismäßigkeit. Und das empört mich auch als Nachgeborene. Das ist typisch deutsch.
Warum?
Weil es um einen fremden Antisemitismus geht, der nicht von den Deutschen kommt, sondern von merkwürdigen Leute vom anderen Ende der Welt. Darüber können wir uns wahnsinnig aufregen und unglaublich verurteilen, wie antisemitisch die sind, dass das sogar mit deutschem Steuergeld bezahlt wird. Aber wenn mich hier einer auf eine Todesliste schreibt, dann ist das garantiert kein Künstler aus einem indonesischen Kollektiv.
Aber es waren ja gerade auch jüdische Stimmen, die sich entsetzt gezeigt haben.
Der Zentralrat der deutschen Juden ändert sich, er wird alle paar Jahre gewählt, und wir hatten schon ganz andere Zentralräte – unter Ignatz Bubis zum Beispiel. Im Moment ist das ein sehr konservativer, der Türen nicht öffnet, sondern eher schließt. Ich verstehe auch die ganzen Beiträge nicht, in denen Menschen mit den eigenen im Holocaust ermordeten Verwandten gegen die Documenta argumentieren. Ein Argument sollte auch ohne Auschwitz stark genug sein.
Finden Sie die beanstandeten Dinge nicht antisemitisch?
Die beiden Männchen? Ohne jede Frage. In meinen Augen hätte man aber die Empörungsenergie, die seit Monaten in die Documenta geflossen ist, weit besser in die Untersuchung der rechten Netzwerke in Polizei und Bundeswehr investiert. Solange das nicht passiert, halte ich das für eine ganz gefährliche, rein symbolische Verschiebung. Denen, von denen die eigentliche Gefahr gegen Leib und Leben ausgeht, ist doch völlig egal, was auf der Documenta hängt. Aber darf uns egal sein, was die Neonazis treiben?
Wie hätten die Verantwortlichen besser reagieren können?
Die können es wohl niemandem mehr recht machen, aber die Kunstfreiheit ist ein hohes Gut. Und sie steht möglicherweise auf dem Spiel. Wenn der Zentralrat nun Experten in die Documenta schicken will, könnten das die Christen und die Muslime eigentlich auch verlangen – und dann haben wir, was wir vor Langem abgelegt haben: dass Religionsgemeinschaften über Kunst urteilen.
Wo wir beim Einmischen sind: Gerade ist wieder ein offener Brief im Umlauf, der sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausspricht und stattdessen einen sofortigen Waffenstillstand fordert, unterzeichnet hat auch Josef Haslinger, der alte und vorübergehend wieder amtierende Präsident des in Darmstadt ansässigen PEN-Zentrums Deutschland. Könnte man im neu gegründeten PEN Berlin, dessen Sprecherin Sie sind, leichter eine Flugverbotszone fordern als in dem alten?
Im PEN Berlin ist es jedenfalls möglich, dass auch die Sprecher und Sprecherinnen ihre persönliche Meinung weiterhin in der Öffentlichkeit vertreten können, ohne dass sie von 370 Mitgliedern geteilt werden muss. Dass Deniz Yücel von fünf Altpräsidenten wegen seiner persönlichen Meinung zum Rücktritt aufgefordert wurde, war eine Ungeheuerlichkeit, in einem Verein, der sich der Freiheit des Wortes verschrieben hat. Ich war übrigens in der Sache Flugverbotszone strikt anderer Meinung.
Damit sind wir bei der Schlacht in der Wurstbude angekommen, die manchen irritiert fragen ließ, ob Autorinnen und Autoren, die nicht einmal ihren eigenen Laden zusammenhalten können, wirklich die moralische Instanz sind, als die sie sich selbst verstehen.
Klares Nein, deshalb auch die Neugründung. Wenn man es nicht schafft, die internen Meinungsverschiedenheiten dem gemeinsamen Vereinsziel unterzuordnen, dann funktioniert der Verein nicht. Und dass PEN Darmstadt weiterhin nicht funktioniert, sehen Sie schon daran, dass Maxi Obexer, die sich bei der Mitgliederversammlung in Gotha in das Interimspräsidium hat wählen lassen – wie ich finde, eine sehr tapfere Tat –, schon nach vier Wochen wieder hingeschmissen hat. Es gibt dort Probleme und Strukturen, die lange hinter die Personalie Deniz Yücel zurückreichen.
Täuscht der Eindruck, oder hat die Abspaltung den alten PEN auf Trab gebracht, nahezu täglich flattern Stellungnahmen herein?
Das wäre ja schön.
Wie sind die Zuständigkeiten, streiten Sie künftig um verfolgte Autoren?
Überhaupt nicht. PEN Darmstadt hat sein Writers-in-Exile- und Writers-in-Prison-Programm, das von der Bundesregierung finanziert wird. Und wir haben von Anfang an gesagt, dass wir uns nicht um diese Gelder bewerben und keine Konkurrenz eröffnen wollen. Wir bemühen uns darum, unsere eigene Finanzierung aufzustellen, um ähnliche Programme auflegen und mit einer größeren Effizienz durchführen zu können.
Was macht Sie da so sicher?
Der deutsche Föderalismus hat viele Stärken. Aber bei der Arbeit mit verfolgten Autorinnen und Autoren ist ein Sitz in Darmstadt nicht sehr förderlich. Schon deswegen, weil Sie dort nicht so leicht menschenrechts-, NGO-geschulte Mitarbeiter finden und weil die verfolgten Schriftsteller selbst logischerweise in Städte wie München, Hamburg, Frankfurt, Berlin ziehen wollen, wenn sie schon ihr ganzes bisheriges Leben aufgeben mussten – etwa weil sie aus Uganda oder der Ukraine geflohen sind. Darmstadt ist da eher ein Standortnachteil.
Sie setzen sich nicht nur für Autoren ein, deren Leben bedroht ist, sondern auch für solche im Kerker des Vergessens. Warum sollen wir Mechtilde Lichnowsky lesen?
Sie gehörte zu den Privilegierten ihrer Zeit, hochadlig, mit dem deutschen Botschafter in London verheiratet. Sie war Teil der besten Gesellschaft und hat das auch ausgenützt, indem sie Autoren kennengelernt hat, die sie interessiert haben: Rilke, Johannes R. Becher – für beide hat sie viel getan. Sie war eine der gebildetsten und bestschreibenden Frauen ihrer Zeit, sehr erfolgreich, bekannt, ein Star. Und niemand weiß mehr von ihr. Angesichts der Qualität ihrer Texte ist das für mich eine schockierende Erfahrung.
Worin besteht diese Qualität?
Das Wichtigste in der Literatur ist die Sprache. Und die von Lichnowsky ist erstklassig, das hat Präzision, Witz, Ironie und Kreativität. Ähnliches ist mir seit Langem nicht mehr begegnet. Man macht das Buch zu und denkt, wieso habe ich diesen Namen noch nie gehört? Ich finde es in unserer schnelllebigen Zeit faszinierend und wichtig, zurückzublicken und sich der Qualität dieser Texte zu vergewissern, auf deren Schultern wir stehen.
Was sollte man zum Einstieg lesen?
„Kindheit“. Das ist ein tolles kleines Buch, in dem man die ganze Lichnowsky in ihrer hohen Originalität erleben kann.
Info
Autorin
Eva Menasse, 1970 geboren, kommt aus einer jüdischen österreichischen Familie. Zuletzt erschien ihr Roman „Dunkelblum“. Sie ist zusammen mit Denis Yücel Sprecherin des neu gegründeten PEN Berlin.
Termin
Eva Menasse setzt sich für das Werk der vergessenen Autorin Mechtilde Lichnowsky ein. Am Freitag stellt sie deren von der Wüstenrot-Stiftung geförderte Werkausgabe im Literaturhaus Stuttgart vor.