Gerade Volljährig sei er nach Deutschland gekommen, weil er sonst den Armee-Dienst in Syrien hätte absolvieren müssen und keiner wisse, ob man jemals wieder lebendig nach Hause kommen würde. Daher schlug er sich über die Türkei und weitere europäische Länder nach Deutschland durch, bis er in Heidelberg landete. "Das war riesig. Wir waren rund 5000 Flüchtlinge. Da gab es ein Büro. Die veröffentlichten jeden Tag Tabellen. Wenn dein Name da drauf ist, musst du deine Sachen packen und wirst weitergeschickt", beschreibt der heutige Eutinger, dass er eines Tages auf der Liste stand. Zuerst ging es nach Ludwigsburg, wo er weitere Syrer aus Damaskus und Umgebung fand.
Nach dem Frühstück ging es in einem Neunsitzer weiter in Richtung Eutingen. "Wir wussten nicht, wo wir sind", beschreibt er seine Ankunft im Dezember 2015 um 21 Uhr. Zu essen gab es an diesem Tag nichts mehr, denn die Neubürger hatten keine Möglichkeit, etwas einzukaufen. Im Bahnhof wären bereits weitere Wohnungen mit Syrern belegt gewesen, doch keiner habe sich getraut zu fragen. Deshalb teilten sich die acht Leute ein paar Nudeln. "Ich habe mich mega gefreut. Für mich war das mehr Sicherheit als im Camp. Herd, Küche und Bad, das war Luxus. Wir konnten kochen, was wir wollten. Wir mussten uns nicht in einer Linie anstellen und das essen, was es gibt", erinnert sich Mohammad. Von der Gemeindeverwaltung Eutingen war die Hauptamtsleitung mit einem Helfer des Asylkreises da. "Wir haben auf Englisch geredet. Wir haben uns bedankt. Er sagte: ›Mein Papa kommt morgen, der kann arabisch.‹ Ich dachte, der verarscht uns. Der sieht doch wie ein Deutscher aus", lacht Mohammad heute.
Nachdem die Syrer Fahrräder geschenkt bekommen hatten, erkundeten sie die Gegend rund um den Bahnhof. "Ich dachte: ›Wo sind wir? Es gibt gar keine Menschen dort?‹" Mit dem Zug sei er oft in die falsche Richtung gefahren. "Bei uns gibt es keine solchen Fahrpläne. Wenn du die Hand hochhältst, dann halten die meisten Busse", beschreibt er seine Heimatstadt Damaskus. Sein Bekannter habe über dessen Helfer den Weg zum Sport gefunden. "Das war damals der Höhepunkt der Woche", bemerkt Ahmed (Name geändert). Er habe in Syrien Schlimmes erlebt und war dankbar, wie viele Bürger ihm bei Anträgen, Arzt-, Amtsbesuchen und vielem weiteren geholfen hatten und bis heute noch helfen. Die Bewohner der zweiten Wohnung erinnern sich noch, als eines Tages die Sternsinger von Wohnung zu Wohnung gingen. "So etwas kannten wir nicht", denkt Mustapha an den Weihrauch zurück, der ihn an die Shisha-Abende in der Heimat erinnerte. In der Eutinger Kochschule habe er zusammen mit Deutschen und Syrern gekocht.
Auf dem Nabu-Gelände fanden das Fastenbrechen und weitere Zusammenkünfte statt. Im Rohrdorfer Gemeindehaus hatten sich die Syrer oft mit den Bürgern getroffen, weshalb auch dort der Vortrag mit Basel und Haysam umgesetzt wurde. "Stimmt, der hat sich als Nikolaus verkleidet", denken die Syrer an die Präsentation mit dem Kostüm von "Baba Noel" (Weihnachtsmann der christlichen Syrer) und der syrischen Staatskleidung zurück. Unvergessen bleiben auch die herzzerreißenden Bilder des syrischen Kleinkindes Alan Kurdi, das die Flucht über das Meer nicht überlebt hatte. In Weitingen waren die Syrer oft zu Besuch im Begegnungshaus und bei Vereinsfunktionären, erinnert sich ein Syrer, der eine Zeit lang vor Ort im Chor sang.
Weitere Erlebnisse wie der Besuch der SWR-Studios in Stuttgart, der Sprachunterricht mit Ehrenamtlichen im Bürgerzentrum oder privat bei diesen zuhause, die täglichen Unterrichte im Hermann-Hesse-Kolleg oder bei der VHS sowie die Besuche des Bodensees machten zahlreiche Engagierte möglich. "Ich muss heute noch lachen, wenn ich an die Mülltrennung denke. Ich habe einen Abend gebraucht, bis ich wusste, was wohin kommt", erzählt Mohammad. Er ist sich sicher, dass er es danach noch immer nicht richtig gemacht hat – zum Ärger des Vermieters und der Nachbarn.
Manche haben Schwäbisch gelernt und ihren Kindern beigebracht
Besonders hätten sich die Syrer gefreut, als die Musikvereine der Gemeinde sie kurz nach der Ankunft zu ihren Jahreskonzerten eingeladen hätten. Bei weiteren Vereinen gab es Schnupperkurse, in so manchen wirken die Syrer und ihre Nachkommen heute noch mit. Einige haben eine Ausbildung begonnen oder bereits abgeschlossen, arbeiten in der Gegend oder suchen noch eine Stelle. Doch nicht jeder blieb im Gäu hängen, so manchen verschlug es in die Großstädte wie Frankfurt, Stuttgart, Hamburg, Nürnberg oder ins Ausland.
Mustapha war über Libyen dann vor zwei Jahren am Kap Verde gelandet und schreibt über die sozialen Medien auf Englisch: "Deutsch war für mich viel zu schwer und mit Englisch kam ich nicht weit."
Andere dagegen haben Schwäbisch gelernt und das auch an ihre Kinder weitergegeben. Syrien haben sie aber nicht vergessen und sind ständig im Austausch. Immer wieder treibt sie die Frage um, wann der Krieg dort endlich aufhört. "Eutingen bedeutet für mich: An diesem Punkt hat alles für mich angefangen. Ich bin hier geblieben. Da hab ich Freunde kennengelernt, einen Platz gefunden, wo ich mich sicher fühle. Ich mag die Leute hier, weil die nett und ehrlich sind, wenn die dich nicht mögen, halten sie Abstand", beschreibt Mohammad und fügt hinzu: "Ich glaube nicht, dass ich wieder zurück kann. Das ist nun meine Heimat."
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