Sollte Israel beim ESC mitmachen? Warum ist Kunst jetzt besonders wichtig? Wie geht man mit Hass im Internet um? Nemo („The Code“), der neue Star des Queerpop, im Interview.
Nach dem ESC-Gewinn mit „The Code“ beginnt erst das eigentliche Abenteuer. Mit dem Album „Arthouse“ erschafft Nemo ein musikalisches Zuhause – ein Ort für Freiheit, Identität und Hoffnung. Ein Gespräch über Kunst, Politik und das Ankommen in der eigenen Welt.
Nemo, Sie sind wieder zurück in Paris. Ist das inzwischen Ihr Zuhause geworden?
Noch nicht ganz. Ich bin gerade in Untermiete hier, bis ich herausgefunden habe, wo ich ab nächstem Jahr leben will – wahrscheinlich London oder Paris. London ist großartig für Musik, mein Management ist dort, aber Paris hat ein Lebensgefühl, das ich liebe. Ich bin ein bisschen zufällig hier gelandet, weil ich mein Album hier fertig produziert habe – und geblieben, weil es sich richtig anfühlt.
Sie haben auch einige Jahre in Berlin gelebt.
Ich war vier Jahre in Berlin – länger als irgendwo sonst, außer in Biel, wo ich aufgewachsen bin. Berlin hat mich sehr geprägt, und ich komme auch gern zurück. Aber musikalisch war es schwierig, dort Anschluss zu finden. Der deutsche Popmarkt ist sehr speziell, und ich habe jetzt in London und Paris eher das Gefühl, an Orten zu sein, die mich fordern und inspirieren.
Ihr Album „Arthouse“ ist gerade erschienen. Der Titel klingt nach einem Safe Space.
Genau das soll es sein: ein Raum, in dem man eintauchen kann. Kein Sammelsurium von Songs, sondern eine Welt. Ich habe mir das Album wie ein Haus vorgestellt – jeder Song ist ein eigener Raum, ein eigenes Universum, aber alles steht unter einem Dach. Das war auch für mich ein guter Trick, um mich in dieses erste Album hineinzufühlen.
Gibt es in diesem Haus einen Lieblingsraum?
Das ist an jedem Tag ein anderer. Heute würde ich sagen: „Unexplainable“. Für mich ist das der Dachboden – wie mein Kinderzimmer, mit Blick auf die Sterne. Es geht darin um den Gegensatz zwischen Realität und Traum, und das passt zu diesem Bild.
Wie ein Traum hat es sich wahrscheinlich auch angefühlt, mit „The Code“ den ESC zu gewinnen.
Total. Der ESC ist ein riesiger, aber sehr konzentrierter Moment. Alles läuft auf diese drei Minuten hinaus – das ist Wahnsinn, wenn man darüber nachdenkt. Ein Album dagegen baut eine Welt, die länger bestehen darf. Und das finde ich gerade viel spannender.
Sie haben sich während der ESC-Debatte auch politisch geäußert – etwa gegen die Teilnahme Israels. Warum war Ihnen das wichtig?
Ich habe das damals getan, weil ich das Gefühl hatte, meine Stimme kann in dem Moment etwas bewirken. Inzwischen bin ich ein bisschen weiter weg davon, aber ich finde es gut, dass inzwischen auch auf Sender-Ebene diskutiert wird – nicht mehr alles auf die Künstler*innen abgewälzt wird.
Die Macher des ESC behaupten gerne, dass der ESC unpolitisch ist.
Natürlich ist der ESC politisch, auch wenn er gern behauptet, es nicht zu sein. Ehrlich gesagt: Ich glaube nicht, dass irgendetwas auf der Welt unpolitisch sein kann.
Wie meinen Sie das?
Wenn jemand sagt „Ich bin unpolitisch“, ist das ein Privileg. Ich kann das nicht sagen, weil meine bloße Existenz politisch ist. Ich bin politisch, weil ich lebe, wie ich lebe – als queere Person. Und wenn man sich dem entzieht, unterstützt man letztlich den Status quo. Unpolitisch zu sein, ist für mich auch eine politische Haltung – nur eben eine bequeme.
Ist Queersein für Sie also automatisch politisch?
Ja, weil wir alle ein Interesse daran haben, so leben zu dürfen, wie wir sind. Wenn ich sagen würde: „Ich äußere mich nicht dazu“, wäre das, als würde ich meine Existenz in Frage stellen. Also ja, ich bin politisch – nicht, weil ich es will, sondern weil ich gar keine andere Wahl habe.
Seit dem ESC stehen Sie stark im öffentlichen Fokus. Bekommen Sie auch Hass ab?
Natürlich. Im Moment gibt es wahnsinnig viel Hass im Netz. Aber Hass ist nichts Konstruktives, es bringt nichts, sich darauf einzulassen. Ich lese das gar nicht erst. Viel wichtiger ist, dass es institutionellen Schutz gibt – Gesetze gegen Diskriminierung und Hetze, gerade für trans und queere Menschen. Da braucht es politische Bewegung, nicht nur gesellschaftliche Hoffnung.
Wie empfinden Sie da die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung – sind Sie eher optimistisch oder pessimistisch?
Weder noch. Die Zukunft fühlt sich im Moment unsicher an – nicht im Sinne von Angst, sondern weil nicht klar ist, wohin sich die Welt bewegt. Es gibt vieles, das mir Sorgen macht, aber auch viel, das Hoffnung gibt. Ich habe dieses Album im Januar geschrieben, während sich politisch und gesellschaftlich alles verändert hat. Da kam schnell die Frage: Was bedeutet Kunst überhaupt in solchen Zeiten? Was bringt sie?
Und zu welcher Antwort sind Sie gekommen?
Ich glaube, Kunst ist genau dann wichtig. Autoritäre Systeme versuchen immer, Kunst zu kontrollieren – weil sie gefährlich ist, weil sie Freiheit bedeutet. Wenn diese Freiheit verloren geht, wird es dunkel. Darum will ich festhalten an Musik, an Kultur, an Freude. Ich glaube, Hoffnung und Lebensfreude sind ein Akt des Widerstands.
Das klingt fast wie ein politisches Programm.
(lacht) Vielleicht. Aber ich denke, das Wichtigste ist, im eigenen Umfeld etwas Positives zu bewirken. Ich versuche, ein gutes Kind, ein guter Freund zu sein, meinen Fans einen sicheren Raum zu geben. Wenn das gelingt, bewegt sich auch die Welt ein kleines Stück in die richtige Richtung.
Stehen Sie trotz des Gewinns des ESC noch ganz am Anfang Ihrer Karriere?
Ich habe das Gefühl, jetzt geht es erst richtig los. „Arthouse“ ist der Beginn eines neuen Kapitels. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass meine Musik wirklich meine Welt widerspiegelt – und dass ich von hier aus in viele Richtungen gehen kann.
Was sind Ihre nächsten Schritte?
Ich freue mich auf die Tour. Wir sind zu dritt auf der Bühne – Synths, Drums und ich. Es ist eine intime, lebendige Show. Und danach will ich viele Kollaborationen machen, mit Künstler*innen aus aller Welt. Ich habe Lust, meine Welt mit anderen zu mischen.
Gibt es jemanden, mit dem Sie besonders gern arbeiten würden?
Ich bin riesiger Fan von Remi Wolf, Ethel Cain und Addison Rae – sie alle haben etwas, das sich neu anfühlt. Ich finde es faszinierend, wenn Musik ein Gefühl auslöst, das ich noch nie hatte.
Nemo „Arthouse“
Person
Nemo kommt 1999 als Nemo Mettler in Biel in der Schweiz zur Welt. Nemo bezeichnet sich selbst als nonbinär und ordnet sich keinem Personalpronomen im Deutschen zu. In Malmö gewann Nemo mit dem Song „The Code“ für die Schweiz vor Kroatien und der Ukraine den ESC.
Album
„Arthouse“ (Universal) ist am 10. Oktober erschienen, es ist Nemos Debütalbum. Zurzeit tourt Nemo durch Europa. Abschluss der „Break The Code“-Konzerttreise ist am 5. Dezember in Wien.