Im Wahlkampf schließen die Grünen die Reihen. Foto: Monika Skolimowska/dpa/Monika Skolimowska

Kaum ein Thema hat die Grünen im vergangenen Jahr so stark beschäftigt wie die Migrationsfrage. Doch im Europawahlkampf sprechen sie kaum darüber. Und das ist kein Zufall.

Viele Stühle waren noch leer, als Emily Büning am Samstagmorgen vor ihre Partei trat. Die Grünen hatten sich zu ihrem kleinen Parteitag in Potsdam versammelt, zum sogenannten Länderrat. Büning ist Politische Geschäftsführerin der Grünen und stand nun auf der Bühne, um das Treffen zu eröffnen. Sie sprach über die vergangenen Wochen, den Europawahlkampf, über die Angriffe auf Politiker. Und sie wünschte sich, dass von der Wahl eine Botschaft ausgehen möge: „ein klares Zeichen für diese Demokratie, für Klimaschutz, für Sicherheit und Frieden!“

 

Stets für mehr Humanität eingesetzt

Das ist bemerkenswerter, als man meinen könnte. Weil in der Aufzählung ein Thema fehlte, das die Grünen in anderen Zeiten wohl unbedingt erwähnt hätten: Menschenrechte – was im Grünen-Jargon so etwas wie die Chiffre für „Asylpolitik“ ist. Das Thema hat die Grünen als Partei im vergangenen Jahr so beschäftigt wie kaum ein anderes. Gleichzeitig ist auf europäischer Ebene viel passiert. Die EU hat kürzlich eine ihrer wichtigsten asylpolitischen Reformen verabschiedet. Doch jetzt, im Europawahlkampf, sprechen die Grünen praktisch kaum über Migrationspolitik.

Entscheidungen gegen die eigene Überzeugung

Wie die Grünen in dieser Frage stehen, war eigentlich immer klar. Sie waren die Partei, die sich stets für mehr Humanität in der Flüchtlingspolitik einsetzte. Doch im vergangenen Jahr mussten die Grünen viele Entscheidungen mittragen, die gegen ihre Überzeugungen gingen. Vor allem für die Parteilinken war das schwer auszuhalten. Die Partei, die geschlossen wie nie zuvor in die Regierung gegangen war, hatte plötzlich mit sich zu kämpfen.

Da war zum einen die Debatte um das europäische Asylsystem. Kürzlich einigte sich die EU auf eine Reform, die die gemeinsame Migrationspolitik vereinheitlichen und verschärfen soll. Der Beschluss gilt als historisch, zuvor war jahrelang um eine Lösung gerungen worden. Um das Asylpaket zu verabschieden, musste die Bundesregierung zustimmen. Und damit auch die Grünen-Spitze. Sie zog mit – zumindest auf Bundesebene. Die Grünen im Europaparlament stimmten größtenteils gegen die Reform. Verabschiedet werden konnte sie trotzdem.

Auch auf Bundesebene mussten die Grünen vieles abnicken, was sie eigentlich kritisieren. Das lag an der Situation in den Kommunen, wo 2023 besonders viele Asylsuchende ankamen. Und so ging es auch hier um Maßnahmen, die darauf zielten, Migration zu begrenzen– das Rückführungsgesetz zum Beispiel. Dagegen sträubte sich die Bundestagsfraktion zunächst. Und stimmte dann trotzdem zu.

Heftige Debatten auf den Parteitagen

Wie sehr das die Grünen herausforderte, konnte man auf den Parteitagen sehen. Im Sommer vor einem Jahr debattierte die Partei bei ihrem damaligen Länderrat intensiv über das EU-Asylpaket. Die einen hielten die Zustimmung für einen schmerzhaften, aber notwendigen Kompromiss. Die anderen lehnten die Reform vehement ab. Vor allem Annalena Baerbock, die das Asylpaket als Außenministerin mitverhandelt hatte, musste sich gegen Kritik verteidigen. Auf dem Bundesparteitag im Herbst diskutierten die Grünen erneut bis in die Nacht über Migrationspolitik, diesmal ging es vor allem um die Maßnahmen der Bundesregierung. Letztlich konnte sich die Parteispitze aber immer mit ihrem pragmatischen Kurs durchsetzen.

Harmonisch, fast langweilig

Und dieses Jahr? Im Europawahlkampf kam das Thema fast nicht zur Sprache. Auch nicht auf dem Länderrat. Der lief ausgesprochen harmonisch, fast etwas langweilig ab – was eine Woche vor der Europawahl auch zu erwarten war. Wenn es darauf ankommt, schließen sich die Reihen.

Demokratie, Klimaschutz, Frieden

Im gesamten Wahlkampf setzten die Grünen ganz auf die Verteidigung der Demokratie, auf den Kampf gegen Rechts. Auch mit den Themen Klimaschutz und Wirtschaft versuchten sie zu punkten, mit grünem Stahl, erneuerbaren Energien, neuen Jobs durch Transformation. Immer wieder betonten sie die Bedeutung der EU für Sicherheit und Frieden. Nur Migrationspolitik kam in diesem Wahlkampf nicht vor. Selbst von linken Stimmen in der Partei, die das Thema nach wie vor für wichtig halten, ist zu hören, dass es richtig sei, die Frage nach Flucht und Asyl jetzt nicht in den Vordergrund zu stellen. Mit Streit gewinnt man keinen Wahlkampf. Mit Asylpolitik aktuell noch weniger.