2019 machten EU-Staats- und Regierungschefs und das Parlament deutlich, was sie vom Wähler halten: nichts! Damit haben sie Vertrauen in Wahlen verspielt. Bewusst scheint ihnen das nicht zu sein, kommentiert Franz Feyder.
Erinnern Sie sich noch? An den Mai 2019? Die Menschen in der Europäischen Union waren zur Wahl aufgerufen. Die Abgeordneten der Union und deren Kommissare hatten den Bürgerinnen und Bürgern, also ihrem Souverän, gesagt, dass erstmals in der Geschichte der Spitzenkandidat der stärksten Partei oder Koalition im Parlament in das höchste Amt in der EU, den Präsidenten der Kommission, gewählt werden würde. Jeder zweite Wahlberechtigte in der Union eilte an die Urne, die beste Wahlbeteiligung seit 1994.
Ursula von der Leyen hatte sich nicht zur Wahl gestellt
Bis die Staats- und Regierungschefs verkündeten, dass ihnen das Ergebnis der Wahl nicht passte – und sie überraschend den EU-Parlamentariern am 2. Juli die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zur Wahl als neue Kommissionspräsidentin vorschlugen. Die hatte sich nicht zur Wahl gestellt. Trotzdem nickte das EU-Parlament nach kurzem, sich zierendem Widerstand, die Entscheidung der Staatsmänner und -frauen ab und wählte von der Leyen ins Amt. Wie viel Selbstachtung bleibt einem Abgeordneten nach so einer Wahl noch?
Doch darüber redet in diesen Tagen niemand mehr. Dabei sollen mehr als 400 Millionen Europäerinnen und Europäer am 9. Juni wieder wählen. „Nutze Deine Stimme. Sonst entscheiden andere über Dich!“ wirbt das EU-Parlament für den Urnengang. Ein vor dem Hintergrund der Wahl 2019 zumindest zweifelhafter Slogan.
Seit ihrer Gründung als EU im Jahr 1993 schreit das System der Union nach grundlegenden Reformen – und erfährt doch keine. Ein Jahr lang beschäftigten sich Politikerinnen und Politiker in Kommission und Parlament 2021 in einer „Konferenz zur Zukunft Europas“ mit genau diesem Thema: Wie muss die Europäische Union reformiert werden, damit sie das Leben der in ihr lebenden Menschen in einer Welt globaler und zerstörerischer Herausforderungen schützt und sichert. Man befragte Bürger, einmal mehr Wissenschaftler und Politiker. Diskutierte, debattierte.
Grundlegende Reformen – Fehlanzeige
Zwei Jahre sind seitdem vergangen – grundlegende Reformen oder zumindest Vorschläge dafür sind nicht auf dem Tisch. 2018 machten die Bürger in einer EU-Volksbefragung deutlich, dass sie in Frühjahr und Herbst keine Zeitumstellung mehr wollen. Kommission und Parlament schlossen sich diesem Votum bis März 2019 an. Seitdem ruht die Entscheidung über das Thema bei den Regierungen der Mitgliedsländer.
Die blockieren sich gegenseitig bei den Fragen, die den Menschen in Europa auf der Seele brennen: ökologischer Wandel, Sicherheit, Migration, Ukraine, Russland und China, soziale Sicherheit, dem Schutz der europäischen Werte und eines von ihnen und durch sie geprägten Rechtssystems. Die Menschen wollen keine halb garen Kompromisse; kein Prinzip, in dem nur einstimmig über die Herausforderungen unserer Zeit entschieden werden kann. Ein Europa, das von Regierungen wie noch bis zum vergangenen Jahr in Polen und immer noch in Ungarn gekapert werden kann.
Sie wollen schnelle, Verantwortung übernehmende Entscheidungen für die großen Fragen, die ihr Leben und das ihrer Kinder auf absehbare Zeit prägen. Sie wollen eine handlungsfähige Union ohne Vetos und Blockaden. Eine EU, in der transparent entschieden wird.
Warum soll ich Ihnen noch vertrauen?
Die Menschen wollen ein Europa, in dem ihre Stimme wirklich zählt. Sie wollen Verbindlichkeit. Sie wollen nicht, dass am Ende wieder wie 2019 eine kleine Gruppe von Staats- und Regierungschefs über ihre Stimme hinwegwalzt. Und ihnen damit mehr als deutlich zu verstehen gaben, dass solche Wahlen sinnlos sind. Deshalb müssen alle, die sich dieser Tage auf den Marktplätzen zur Wahl für das neue Europaparlament präsentieren, müssen die EU-Staats- und Regierungschefs nach den Erfahrungen von 2019 zuerst eine einzige Frage glaubhaft beantworten: Warum soll ich Ihnen noch vertrauen?