Der Kampf um die prestigeträchtigen Brüsseler Spitzenämter: Der Konservative Jean-Claude Juncker und der Sozialdemokrat Martin Schulz streiten um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. Eine Mehrheit im Parlament kann keiner vorweisen.

Brüssel - Der Kampf um die prestigeträchtigen Brüsseler Spitzenämter ist eröffnet. Dieses Mal wird es richtig kompliziert, denn für den Posten des Kommissionspräsidenten stehen Spitzenkandidaten der stärksten europäischen Parteien bereit – Jean-Claude Juncker von den siegreichen Konservativen und Martin Schulz von den zweitplatzierten Sozialdemokraten.

Beide geben sich selbstbewusst. „Ich liege nicht auf den Knien, ich habe die Wahlen gewonnen“, meint Juncker. „Ich denke, dass alle Startbedingungen gegeben sind, um mir das Mandat zu geben, die neue Kommission zu bilden.“ Die Linie von Schulz lautet: „Ich werde auch eine Initiative ergreifen, um eine Mehrheit für mein Programm zu finden.“ Der SPD-Politiker wird von der Union angegriffen, weil er sich beim Amt des Kommissionspräsidenten nicht geschlagen gibt.

Tatsächlich hatte Schulz vor dem Urnengang mehrfach betont, der Kandidat der stärksten Fraktion solle Kommissionschef werden. Das wäre ohne Zweifel der Luxemburger Juncker, die Nummer eins der Konservativen. Doch wer immer auch Nachfolger des seit 2004 amtierenden konservativen Portugiesen José Manuel Barroso an der Kommissionsspitze werden will – er braucht einen oder mehrere Partner für die notwendige Mehrheit von 376 Stimmen. Hannes Swoboda, Fraktionschef der Sozialdemokraten, zeigt sich selbstbewusst: „Herr Juncker kann keine Mehrheit finden ohne uns.“

Übergeht man das übliche Ritual der starken Worte am Tag danach, gibt es längst vielversprechende Signale: So könnte die Zustimmung der Sozialdemokraten für Juncker dadurch gewonnen werden, dass man ihnen zusagt, eine erneute Schulz-Kandidatur für das Amt des Parlamentspräsidenten zu unterstützen.

Andere geben sich sicher, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen mit den Spitzen ihrer Koalition Schulz als neuen deutschen EU-Kommissar für ein Schlüsselressort vorschlägt. Beides würde den Mann, der nach den Worten von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel für die Zugewinne in Deutschland steht, durchaus aufwerten. Ebenfalls ungeregelt ist bisher die Nachfolge des ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rats. Der Belgier Herman Van Rompuy wird Ende November ausscheiden. Auch eine neuer „hoher Beauftragter“ für die Außen- und Sicherheitspolitik muss gefunden werden, denn die Britin Catherine Ashton wird aufhören.

Schon seit Monaten werden in Brüsseler Hinterzimmern detailreiche Personaltableaus skizziert. Dass es dabei einen Proporz zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West, zwischen Links und Rechts und zwischen Männern und Frauen geben muss, steht zwar nirgendswo geschrieben, wird aber so praktiziert. Heute Abend wollen die Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft über das Ergebnis beraten. Dabei soll es keinesfalls nur um Namen und Posten gehen. „Die Menschen wollen Wandel“, sagt der britische Premier David Cameron. Viele seien vom europäischen Projekt desillusioniert. Er steht mit dieser Auffassung nicht allein. Frankreich, Deutschland, Polen, Finnen – sie alle ziehen an einem Strang, wenn es darum geht, die Gemeinschaft umzukrempeln und Kompetenzen auch wieder in die Mitgliedstaaten zurückzuverlagern.

Auf jeden Fall wird der flämische Christdemokrat Van Rompuy kurz vor der Pensionierung bei der Gipfelrunde noch einmal eine taktische Meisterleistung vollbringen müssen. Cameron und der französische Staatspräsident François Hollande werden kaum mit entspannter Mine vor dem EU-Ministerratsgebäude ankommen. Hollande ist mit der Rechtspopulistin Marine Le Pen konfrontiert, deren Front National die Europawahl in Frankreich klar gewonnen hat. Die FN fordert nichts Geringeres als den Austritt Frankreichs aus der Eurozone. Camerons euroskeptischer Widersacher von der siegreichen Ukip, Nigel Farage, geht für sein Land weiter: „Ich möchte nicht nur, dass Großbritannien die EU verlässt, ich möchte auch, dass Europa die EU verlässt.“

Allerdings gibt es auch Spitzenpolitiker, die entspannt zum Brüsseler Gipfel kommen. Zu ihnen dürfte der italienische Regierungschef Matteo Renzi gehören, dessen linke Demokratische Partei sich klar durchsetzte. Er sagt: „Italien war das Land, wo das Schlimmste hätte passieren können, aber es sorgte für eine überraschende Botschaft der Hoffnung.“ Es geht also auch anders.