751 Europaabgeordnete werden im Mai in Europaparlament gewählt – doch was macht so ein Abgeordneter eigentlich den ganzen Tag? Foto: dpa

Was tut ein Europa-Parlamentarier eigentlich den ganzen Tag? Einblicke in Brüssel und Straßburg: Warum wir vor der wichtigsten Europawahl stehen, die wir je hatten. Und was die britischen Konservativen und die deutschen Sozialdemokraten ganz nahe zusammenrücken lässt.

Was tut ein Europa-Parlamentarier eigentlich den ganzen Tag? Einblicke in Brüssel und Straßburg: Warum wir vor der wichtigsten Europawahl stehen, die wir je hatten. Und was die britischen Konservativen und die deutschen Sozialdemokraten ganz nahe zusammenrücken lässt.

Brüssel - Zwischen Kaffeetassen und Marmeladen-Brötchen liegen dicke Akten. Es ist 7.30 Uhr an diesem Morgen im Abgeordneten-Restaurant des Europäischen Parlamentes. Während im Hintergrund die Bedienungen mit Tellern klappern und Gläser zurechtrücken, sitzen die Fraktionschefs der insgesamt 13 Parteienfamilien zusammen. Sie dreschen nicht aufeinander ein, sondern loten Lösungen aus.

An diesem Vormittag geht es um die künftige Abwicklungsbehörde für marode Banken, einen zentralen Pfeiler der Bankenunion. „Wir vertreten über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger“, sagt Joseph Daul, Chef der konservativen Mehrheitsfraktion. „Wir ringen gemeinsam darum, dass unsere Gesetze sozial und ausgereift sind“, ergänzt Guy Verhofstadt von den Liberalen.

Einmal pro Monat reisen alle 766 Parlamentarier (künftig werden es nur noch 751 sein) mit Sack und Pack nach Straßburg, wo die Volksvertretung laut Lissabonner Vertrag ihren eigentlichen Sitz hat. In Brüssel fühlen sich die meisten wohler. Die Debatten im großen Saal sind wichtig, die Sitzungen der zahllosen Ausschüsse wichtiger.

„Spätestens ab 8 Uhr morgens jagt ein Termin den nächsten“, erzählt Alexander Graf Lambsdorff, Chef der FDP-Gruppe in der liberalen Fraktion. Andreas Schwab (CDU): „Der Tag beginnt um 7 Uhr und endet fast nie vor 23 Uhr.“ Dazwischen liegen Ausschusssitzungen, Treffen mit Experten, Diplomaten, Vertretern der Zivilgesellschaft und Lobbyisten.

39 Sitzungswochen – doppelt so viele wie im Bundestag

„Am Nachmittag lese ich häufig Akten, Vorlagen, Gesetzentwürfe“, erzählt die Sozialdemokratin Kerstin Westphal. „Der Arbeitstag endet häufig mit einer Abendveranstaltung, auf der ich eine Rede halte oder an Podiumsdiskussionen teilnehme“, ergänzt der Chef der CSU-Abgeordneten, Markus Ferber. „Ich rede mit Lobbyisten, Besuchern, der Klimaschutz-Kommissarin, dem türkischen Botschafter“, erzählt Rebecca Harms, Fraktionschefin der Grünen. 39 Sitzungswochen verzeichnet der Parlamentskalender, doppelt so viele wie der des Deutschen Bundestags. „In Brüssel und Straßburg wird wirklich noch an den Sachfragen gearbeitet“, sagen Beobachter.

Für seine Vorlage zur Regulierung des sogenannten Hochfrequenzhandels ließ sich Ferber vor Ort von Fachleuten informieren, arbeitete sich in Logarithmen ein, mit denen die Rechner untereinander den Handel abwickeln. Schwab erzählt von langen Gesprächen mit Vertretern großer und kleiner Firmen, die ihm schilderten, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben, wenn es um grenzüberschreitenden Handel geht. Am Ende wurde daraus die europäische Verbraucherschutz-Richtlinie, die das Niveau für den Kunden in allen Mitgliedstaaten harmonisiert.

Westphal berichtet von vielen Gesprächen mit Abgesandten bayerischer Kommunen, die Sorge hatten, dass die Umwidmung ehemaliger Militärgelände in zivil nutzbare Flächen erst erkämpft werden müsste. Die Kommission hatte eine Förderung solcher Vorhaben in den neuen Verfahrensregeln für den Regionalfonds kurzerhand gestrichen. Harms sagt: „Ich finde es schon ziemlich genial, dass es uns über das EU-Parlament gelungen ist, entgegen der ablehnenden Haltung der Regierungen der Mitgliedstaaten erste wichtige Schritte bei der Regulierung der Finanzmärkte zu gehen.“

Mitreden und Mitgestalten erfordert Vorbereitung

Die derzeit 99 deutschen Abgeordneten (künftig werden es nur noch 96 sein) gelten – ebenso wie die Parlamentarier aus Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien – als besonders fleißig. Das hat seinen Grund: Wer sich nicht tief in die Dossiers einarbeitet, verliert die Möglichkeit, mitzureden und damit mitzugestalten.

Als es vor Jahren um die Frage ging, ob Bereitschaftsdienste von Medizinern und Pflegepersonal als Arbeitszeit auf Lohn und Zeitausgleich angerechnet werden sollen, schwärmten die Politiker zu Hunderten in die Kliniken ihrer Wahlkreise aus, zogen sich weiße Kittel über und blieben über Nacht in den Notaufnahmen sitzen. „Wenn ich mich für die Belange meiner Region einsetzen soll, muss ich die Praxis kennen“, ist ein oft gehörter Satz. Parteipolitische Grabenkämpfe spielen in Straßburg und Brüssel nur eine geringe Rolle. Die Fronten in den Sachfragen gehen nicht entlang der Fraktions-, sondern der Nationalitätsgrenzen. Manchmal sind sich die britischen Konservativen und die Sozialdemokraten näher, als man es glauben möchte.

Dass die Abgeordneten trotzdem, wenn sie nach Hause kommen, häufig nur nach ihrem Einkommen gefragt werden, stört kaum jemanden mehr. Die meisten haben ohnehin auf ihren Internet-Seiten die finanziellen Verhältnisse offengelegt. 8229,39 Euro verdienen die Parlamentarier brutto im Monat. Davon gehen Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer sowie Kranken- und Pflegeversicherung ab. Die bundesdeutschen Mandatsträger werden somit genauso bezahlt wie ihre Kolleginnen und Kollegen im Bundestag.

Neben den Diäten gibt es eine steuerfreie, „allgemeine Kostenvergütung“ in Höhe von 4299 Euro im Monat, die aber weitere Abzüge wie Werbungskosten verbietet. Die Altersvorsorge wurde nach etlichen Skandalen um einen europäischen Pensionsfonds neu geregelt. Ab dem vollendeten 63. Lebensjahr gibt es ein Ruhegehalt von 3,5 Prozent des Gehalts für jedes volle geleistete Amtsjahr, jedoch maximal 70 Prozent des Gehalts.

Täglich zwischen 14 und 16 Stunden Arbeit – keine Seltenheit

Ein Tagegeld in Höhe von 304 Euro soll den Aufwand für Hotel oder eigene Wohnung vor Ort ausgleichen. Bleibt noch ein Zuschuss von 21 209 Euro im Monat, der den Parlamentariern zusteht, aber nicht ausbezahlt wird. Damit werden die Mitarbeiter bezahlt sowie deren Reisekosten nach Straßburg beglichen. „Wir beschweren uns wirklich nicht“, sagt ein Volksvertreter, „aber das Bild vom reichen Politiker stimmt einfach nicht.“

Das bestätigt ein Blick in die Terminkalender: Die tägliche Arbeitszeit liegt nicht selten bei 14 bis 16 Stunden. Am Wochenende stehen weitere Termine im Wahlkreis an. Hinzu kommt das Leben aus dem Rollkoffer. Deren Geräusche prägen das Europäische Viertel sogar noch mehr als der Lärm der rund 90 000 Fahrzeuge, die jeden Tag Richtung Parlament, Ministerrat oder Kommission rollen.

Inzwischen haben die Volksvertreter Brüssel verlassen, um zu Hause um Stimmen zu ringen. „Die künftigen Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament werden die Richtung, in der wir in der EU gehen, maßgeblich beeinflussen“, sagt Schwab. „Wir stehen vielleicht vor der wichtigsten Europawahl, die wir je hatten.“ Beim Datenschutz stehen zentrale Entscheidungen an, die Fortsetzung der Klimaschutz-Politik muss endlich festgezurrt werden, die Beziehungen zu Afrika, zu den Ländern im Osten, zu den USA, zu Fernost müssen geregelt werden. Vor den Türen der Union warten die Türkei, Serbien und weitere Staaten. „In den kommenden fünf Jahren muss Europa in vielen Fragen Farbe bekennen“, heißt es bei den Gesprächen immer wieder.

Schon kurz nach den Wahlen steht die erste Bewährungsprobe für das Parlament an. Dann werden die 751 Abgeordneten zum ersten Mal einen neuen Kommissionspräsidenten wählen, nachdem dieser von den Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen wurde. Anschließend müssen die 27 neuen Kommissare durch die Anhörungen – eine durchaus heftige Prozedur, bei der die Be-werber sich drei Stunden lang bis zu 160 Fragen der Parlamentarier stellen. In den zurückliegenden Jahren fielen regelmäßig besonders schwache Kandidaten durch. „Wer Einfluss auf die künftige Ausrichtung der Kommission ausüben will, muss für ein starkes Parlament sorgen“, betonen die Spitzenkandidaten der Konservativen und der Sozialdemokraten, Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, immer wieder.

Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa

Dass die Zeiten vorbei sind, in denen die Parteien einen „Opa nach Europa“ schickten, zeigte sich schon in dieser Legislaturperiode. Fachleute waren gefragt. Und mutige Entscheider, die den Bürgerwillen ernst nehmen. „Wir haben das umstrittene ACTA-Abkommen (über einen strikten Urheberrechtsschutz im Internet, die Redaktion) gestoppt und verhindert, dass die Kommission die Wasserversorgung zur Privatisierung freigegeben hat“, verweist Kerstin Westphal auf zurückliegende Erfolge. Und auch Markus Ferber betont: „Ein riesengroßer Erfolg war der Ausschluss des Wassersektors von der Konzessionsrichtlinie.“

Andreas Schwab nennt den Einsatz für sein Bundesland Baden-Württemberg als wichtigen Erfolg, denn „immerhin 65 Prozent unserer Exporte gehen in den europäischen Binnenmarkt“. Alexander Graf Lambsdorff verweist darauf, dass die Liberalen bei der Reach-Verordnung über den Umgang mit Chemikalien dafür gesorgt haben, „dass die Wettbewerbsfähigkeit der Chemieindustrie gesichert“ wurde. Davon profitiere seine Region in Nordrhein-Westfalen genauso wie ganz Deutschland „erheblich“. „Was hier in Brüssel beschlossen wird, hat direkte Auswirkungen auf die Menschen in Niedersachsen“, ergänzt Rebecca Harms.

Als der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber mit seiner EU-Task-Force zur Entbürokratisierung die Arbeit aufnahm, ließen sich die 19 Experten ausrechnen, wie hoch der Anteil der nationalen Gesetze ist, die vom Europäischen Parlament zuvor angestoßen werden: 80 Prozent. Stoiber am Rande einer Sitzung: „Europa ist heute mindestens genauso wichtig wie die Arbeit eines nationalen Parlamentes. Das sollten die Wähler wissen.“