Auch wenn es als typisches Frauenleiden gilt: Die Zahl der Männer mit Essstörungen nimmt offenbar zu. Experten nennen die Ursachen und erklären, wie man rechtzeitig gegensteuert.
Er war 18, hatte gerade sein Abitur gemacht und schmiedete große Pläne: Reisen unternehmen, jobben. Doch auf einmal kam Corona und zerstörte die Träume. Statt in der fernen Welt saß der junge Mann daheim, konnte niemanden treffen und blickte einer ungewissen Zukunft entgegen. „Dann hat er angefangen, exzessiv zu trainieren“, berichtet der Psychiater Ulrich Voderholzer.
Der Jugendliche brachte es auf bis zu sechs Stunden pro Tag, rutschte in eine Magersucht, verlor über 20 Kilo und musste behandelt werden. „Negative Emotionen, Einsamkeit, Mobbing, Stress können Trigger sein, die eine Essstörung auslösen“, sagt Voderholzer, Ärztlicher Leiter der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, die auf die Behandlung von Essstörungen und anderen psychischer Erkrankungen spezialisiert ist.
Noch immer leiden siebenmal mehr Frauen als Männer an Magersucht
Dass Jungen und Männer an Magersucht (Anorexia nervosa) leiden, kommt selten vor. Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erkranken 2 von 1000 Männern im Laufe ihres Lebens daran – bei Frauen ist die Zahl ungefähr siebenmal so hoch. Auch andere Essstörungen wie Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und die Binge-Eating-Störung (Ess-Attacken) sind bei Frauen deutlich häufiger.
Es gibt in jüngster Zeit allerdings Hinweise, dass der Anteil betroffener Männer zugenommen hat. „Klar wissenschaftlich belegt ist das allerdings nicht“, sagt Voderholzer. Insgesamt ist die Zahl von Jugendlichen, die an Essstörungen leiden, in den vergangenen Jahren in die Höhe geklettert. „Die Corona-Epidemie war dabei ein massiver Trigger“, sagt er. Auch andere Faktoren, darunter Zukunftsängste und unsichere Bindungen, spielten eine Rolle.
Daten von Krankenkassen aus den Coronajahren zeigen, dass zwar in erster Linie Mädchen und Frauen von Essstörungen betroffen sind, der Anteil junger Männer aber gewachsen ist: Nach einer Datenanalyse der KKH Kaufmännische Krankenkasse gab es 2020 bei 18- bis 24-jährigen Männern fast 19 Prozent mehr solcher Diagnosen als im Vorjahr. Bei Frauen dieser Altersgruppe habe es nur einen leichten Anstieg von knapp vier Prozent gegeben. Die Tendenz setzte sich 2021 bei Männern fort, wenn auch weniger stark.
„Ich habe seit Corona definitiv mehr Jungen in Behandlung“, berichtet die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Liane Hammer, Leiterin von TheraTeam in München, einer Einrichtung zur ambulanten Therapie von Essstörungen. Auch sie beobachtet, dass bei den Betroffenen oft exzessiver Sport eine große Rolle spielt.
Erst sportsüchtig, dann magersüchtig
Einer der Jugendlichen, die sie behandelt, hatte sich zum Beispiel einen Rucksack mit Büchern bepackt, um härter trainieren zu können. Dass Jungen und Männer häufig über Sportsucht in eine Essstörung hineingleiten, hängt mit Körperidealen zusammen. Anders als bei Frauen, bei denen Schlanksein oberstes Gebot ist, steht das Ideal vom muskulösen, definierten Körper im Vordergrund. Soziale Medien spielen bei der Verbreitung solcher Ideale eine große Rolle. „Sie schaffen ein Bewusstsein, das dazu beiträgt, dass Essstörungen entstehen“, sagt Hammer.
Landläufig gelten Essstörungen immer noch als reine Frauenkrankheit. Genau das führt dazu, dass Jungen und Männer oft erst sehr spät eine Diagnose bekommen und es wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt. Grundsätzlich tun sich Männer schwer damit, Hilfe zu suchen, wie Voderholzer betont.
Bei Essstörungen ist die Situation noch komplizierter: „Eine psychische Krankheit zu haben, ist ohnehin ein Stigma“, sagt der Psychiater. „Als Mann dann noch eine Frauenkrankheit zu haben, ist eine doppelte Stigmatisierung.“ Er berichtet von Männern, die jahrzehntelang schwere Essstörungen hatten, ohne zum Arzt zu gehen. Erst über Umwege, etwa über Gastroenterologen, die sie wegen ständiger Magen-Darm-Probleme aufgesucht hatten, kamen sie doch noch in Behandlung.
Homosexuelle Männer häufiger betroffen
Unter homo- und bisexuellen Männern sind Essstörungen Studien zufolge häufiger als unter heterosexuellen. „Das Ideal von einem muskulösen und schlanken Körper spielt in der homosexuellen Szene eine größere Rolle“, sagt Voderholzer.
Ein großes Thema sind Essstörungen offenbar im Profisport: Eine Literaturrecherche eines Teams um Yannis Karrer von der Universitätsklinik Zürich ergab 2020, dass krankhafte Essgewohnheiten unter Elitesportlern wesentlich verbreiteter sind als in der Allgemeinbevölkerung.
Vor allem in „gewichtssensiblen“ Sportarten – etwa Skispringen, Tanzen und Turnen – ist das Risiko erhöht. Die vorhandene Literatur weise auf überdurchschnittlich viele Fälle „von gestörtem Essverhalten und Essstörungen bei männlichen Spitzensportlern hin“, schreiben die Autoren und weisen gleichzeitig auf große Forschungslücken hin.
Karriereende: Skispringer Dominik Peter Opfer seiner Essstörung
Ein Beispiel ist der Schweizer Skispringer Dominik Peter, der seine Karriere im vergangenen Frühjahr mit nur 22 Jahren wegen einer langjähriger Essstörung für beendet erklärte. Aus dem ständigen Zwang heraus, das Gewicht zu minimieren, bekam er unkontrollierbare Essattacken – vertilgte laut Medienberichten etwa drei Tiefkühlpizzen samt Süßigkeiten auf einmal und hatte danach Gewissensbisse.
Solche Ess-Attacken können Zeichen einer Bulimie, aber auch einer Binge-Eating-Störung sein: Dieses Phänomen kommt bei Männern wesentlich häufiger vor als Magersucht und Bulimie. Dabei verschlingen die Betroffenen anfallsweise große Mengen an Nahrungsmitteln, um negative Gefühle zu bewältigen, und entwickeln in vielen Fällen Übergewicht.
Achtung bei Teenagern!
Vor allem Teenager legen häufig sonderbare Essgewohnheiten an den Tag – sind wählerisch, essen an einem Tag wenig, verputzen am nächsten Berge von Fastfood. Wann müssen sich Eltern Sorgen machen? „Man sollte beobachten: Verändert sich der Jugendliche? Zieht er sich zum Beispiel zurück?“, sagt Liane Hammer. „Oder treibt er in überzogener Weise Sport?“
Grundsätzlich sei es immer wichtig, dass Eltern mit ihren Kindern im Gespräch blieben. Bei Unsicherheiten und Auffälligkeiten sollte man den Mut haben, sie anzusprechen und im Zweifelsfall Hilfe bei einer Beratungsstelle für Essstörungen suchen. Voderholzer sagt: „Man sollte den Mut zusammennehmen, etwas zu sagen. Wie oft habe ich erlebt, dass jeder wegschaut.“ In extremen Fällen säßen dann Menschen vor ihm, die bis zum Skelett abgemagert seien. „Und keiner hat reagiert.“
Wie die Therapie funktioniert
Bei der Therapie von Essstörungen gibt es wenig geschlechtsspezifische Unterschiede. Je nach Form und Schwere kann es sich um eine ambulante oder stationäre Behandlung handeln, die sich aus verschiedenen Bausteinen, unter anderem einer Psychotherapie, zusammensetzt. Dabei fällt bei Männern allenfalls die „Körperbildtherapie“ anders aus, die helfen soll, die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers zu verändern. Denn schließlich herrschen bei Männern hier andere Ideale vor. „Essstörungen sind heilbar, aber es ist ein langer Weg“, sagt Hammer. „Je früher man beginnt, desto besser sind die Aussichten.“
Die wichtigsten Essstörungen in Kürze
Magersucht
Untergewicht steht im Vordergrund. Typisch ist eine verzerrte Körperwahrnehmung: Die Betroffenen sind extrem dünn, nehmen sich aber als unförmig und dick wahr. Aus Angst zuzunehmen, schränken sie sich beim Essen extrem ein. Die Gedanken kreisen ständig um Kalorien und Gewicht. Magersucht ist seltener als andere Essstörungen, dafür aber gefährlicher: Das Sterberisiko ist bei den Betroffenen in etwa fünf mal so hoch wie bei Gleichaltrigen.
Bulimie
Bei der „Ess-Brech-Sucht“ kommt es zu regelmäßigen Essanfällen. Aus Angst, an Gewicht zuzulegen, ergreifen die Betroffenen massive Gegenmaßnahmen. Zum Beispiel bringen sie sich zum Erbrechen, nehmen Abführmittel, treiben exzessiv Sport oder unterziehen sich strengen Diäten. In der Regel sind Menschen mit Bulimie auch unzufrieden mit ihrem Körper.
Binge-Eating-Störung
Das Wort „Binge Eating“ kommt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie exzessives Essen. Charakteristisch sind Essattacken, bei denen die Betroffenen Speisen in großen Mengen verschlingen, ohne sich bremsen zu können. Anders als Menschen mit Bulimie versuchen „Binger“ aber nicht, die Kalorien anschließend durch Erbrechen oder andere Maßnahmen wieder los zu werden. Wenn die Attacken mindestens einmal pro Woche auftreten und drei Monate oder länger anhalten, sprechen Ärzte von einer „Binge-Eating-Störung“.
Informationen: Einen übersichtlichen Überblick findet man z.B. auf den Internetseiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).