Ein normales Essen ist mit Essgestörten nicht möglich Foto: Fotolia

Mit interaktiver Grafik - Ob Magersucht oder Bulimie - Essstörungen sind eine weibliche Krankheit und die Mädchen werden immer jünger. Ein neues Kompetenzzentrum in Tübingen soll die Therapie verbessern.

Stuttgart/Tübingen - Literweise schwarzer Kaffee – mehr hat Nicole nicht mehr zu sich genommen. Während sich ihre Kommilitonen zwischen zwei Klausuren einen Schokoriegel als Nervennahrung gegönnt haben, hat Nicole nur Kaffee getrunken. Die 20-Jährige litt an Magersucht. Ihre Haut war fahl, ihre Hände und ihr Gesicht mit einem dünnen Flaum überzogen. Die dünnen, matten Haare sollen durch eine Tönung in Rot etwas gesünder wirken. Denn durch das Hungern fehlten dem Körper Nährstoffe. Der Blutdruck sinkt, der Herzschlag verlangsamt sich, und die Periode setzt aus.

 

Mädchen wie Nicole finden oft den Weg in das Büro von Marianne Seiler. Es ist Anlaufstelle für Menschen mit einer Essstörung. „Wir möchten den Menschen Hilfe anbieten, ohne sie zu drängen“, sagt Sieler, die seit sieben Jahren als Sozialpädagogin und systemische Therapeutin bei Abas arbeitet. Abas ist die Geschäftsstelle des Arbeitskreises Essstörungen Stuttgart. Durch diese enge Verzahnung ist es Marianne Sieler und ihrer Kollegin möglich, Betroffene auf kurzen Wegen an Therapeuten oder Ernährungsberater weiterzuleiten. „Unsere Aufgabe ist keine langfristige Beratung. Wir verstehen uns als Türöffner, die eine erste Einschätzung geben und Orientierung liefern“, sagt sie.

Zu den Essstörungen gehören die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Essanfälle mit Erbrechen (Bulimia nervosa) sowie Essanfälle mit Übergewicht (Binge-Eating-Störung). „95 Prozent der Magersüchtigen und 90 Prozent der Patienten mit Bulimie sind weiblich“, sagt Stephan Zipfel. Er ist der Ärztliche Direktor von Komet in Tübingen, dem ersten universitären Kompetenzzentrum für Essstörungen. Es ist ein Zusammenschluss von verschiedenen Abteilungen und wurde im Herbst dieses Jahres eröffnet. „Eine Essstörung ist ein bio-psychosoziales Krankheitsbild, dass gemeinsam vom Hausarzt oder Kinderarzt und Psychotherapeuten behandelt werden muss“, sagt Zipfel. Die Mädchen sprechen mit Psychologen über die Gründe ihrer Krankheit. Mit Hilfe von Ernährungsberatern lernen sie, wieder normal zu essen.

Manche entwickeln eine regelrechte Angst vor Pizza und Kuchen

Mädchen sind von der Krankheit besonders betroffen, weil durch die Pubertät der Körper bei Mädchen weiblicher wird und sich die Fettverteilung ändert. „Wenn das bei einem Mädchen früher passiert als bei den Freundinnen, kann das für das betroffene Mädchen schwer sein“, sagt Sieler von Abas. Mit einer Diät wird dann versucht, die breiter gewordenen Hüften und die Brust wieder wegzuhungern. Weitere Gründe für eine Essstörung können eine Trennung vom Partner, der Verlust eines nahestehenden Menschen, familiäre Probleme oder Missbrauch sein. „Auch Depressionen können der Auslöser sein, wobei man dann oft nicht weiß,was zuerst da war: die Essstörung oder die Depression“, sagt Sieler.

Einige Mädchen schaffen es dann, mit dieser Diät wieder aufzuhören, weil sie lernen, sich und ihren Körper anzunehmen. Andere nicht. „Es gibt Patienten, die entwickeln eine richtige Angst vor Pizza, Schokolade oder Kuchen“, sagt Zipfel. Andere haben einen Zwang, sich zu bewegen. Sie wachen mitten in der Nacht auf, stehen auf und machen 100 Sit-ups. „Sie können das nicht mehr steuern. Es geht nur noch darum, Kalorien zu verbrennen.“ Dabei sind die Mädchen und jungen Frauen schon sehr dünn. „Ihr Körperbild ist aber so verzerrt, dass sie sich völlig falsch wahrnehmen. Sie glauben, dass sie viel zu dick sind“, sagt Zipfel.

Warum junge Frauen auf einmal aufhören zu essen oder unkontrolliert Massen an Schokolade, Pizza und Chips in sich hineinstopfen, um sich dann wieder zu erbrechen, hat verschiedene Gründe. „Model-Casting-Shows im Fernsehen sind allein nicht Schuld an dieser Erkrankung “, sagt Zipfel.

Magersucht ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate. Die Betroffenen sterben an Herzstillstand, oder eine Entzündung ringt den völlig ausgezehrten Körper nieder – und das, obwohl viele von ihnen in Spezialkliniken wie in Tübingen behandelt werden. Eine 1,70 Meter große Frau hätte bei einem Körpergewicht von 45 Kilogramm Untergewicht. „Mädchen mit einer schweren Magersucht, die sehr dünn sind, müssen auf der Intensivstation behandelt werden“, sagt Zipfel.

Neoprenanzug soll helfen, den Körper wahrzunehmen

Damit die Erkrankten ihren Körper wieder wahrnehmen, hat der Leipziger Haptik-Forscher Martin Grunwald einen speziellen Neoprenanzug entwickelt. In diesem hautengen Anzug sollen die Magersüchtigen lernen, ihre Körpergrenzen besser wahrzunehmen, und dadurch begreifen, wie dünn sie eigentlich sind. „Gegen die Körperschemastörung kommt man mit einer Psychotherapie nicht an“, sagt Grunwald. Den meisten Erkrankten hilft es auch nicht, sich im Spiegel zu betrachten. Sie sind davon überzeugt, dick und unförmig zu sein. Deswegen hungern sie weiter. Grunwald ist davon überzeugt, dass die Betroffenen an einer Störung des Tastsinnsystems leiden und sie daher ihren Körper falsch wahrnehmen. Der Neoprenanzug übt Druck aus, und das Gehirn soll lernen, den Körper realer wahrzunehmen. Erste Studien zeigen, dass der Anzug helfen kann, den Tastsinn und die Wahrnehmung zu verbessern.

Damit die Mädchen und Frauen nicht noch tiefer in die Magersucht oder Bulimie hinein geraten, versucht Marianne Sieler, sich in den ersten Gesprächen heranzutasten, warum „die Gefühle aus dem Gleichgewicht“ sind. Dabei redet sie mit den Mädchen oder jungen Frauen nie über Essen. „Ich versuche herauszufinden, ob es Ereignisse gab, die mit der Änderung der Essgewohnheiten einhergingen“, sagt sie. Denn Essen sei immer ein Ausdruck des seelischen Befindens. In Stresssituation wird es zum Ventil. „Wenn den Betroffenen alles zu viel wird, dann wissen sie, dass sie wenigstens das Essen kontrollieren können“, sagt Sieler. In Gesprächen versucht Sieler immer das Positive hervorzuholen. Dazu gehört auch, dass für niemanden die Tür verschlossen ist. Selbst wenn Mädchen Termine kurzfristig absagen oder sich erst nach einem jahrelangen E-Mail-Kontakt in die Beratungsstelle Abas trauen. Betroffene, die erst einmal nur jemanden zum Reden suchen, können sich anonym beraten lassen. Auch junge Mädchen. „Wir sind außerdem zum Schweigen verpflichtet“, sagt Sieler. „Doch wir versuchen, schnell die Eltern miteinzubeziehen, denn die Gründe für das gestörte Essverhalten liegen vielleicht in der Familie“, sagt sie. Außerdem hat sie in den letzten Jahren festgestellt, dass vor allem auch 11- oder 12-jährige Mädchen unter schweren Formen der Magersucht leiden. „Früher trat die typische Pubertätsmagersucht mit 14 oder 15 Jahren auf. Heute sind die Mädchen jünger“, sagt Stephan Zipfel.

Für die Angehörigen ist es schwer zu ertragen, dass sich die Tochter dem Essen verweigert. „Sie geben sich die Schuld und fragen sich, was sie falsch gemacht haben“, sagt die Therapeutin Sieler. Essen wird das beherrschende Thema in der Familie und hat immense Auswirkungen. „Die Erkrankten fühlen sich angegriffen, werden aggressiv und ziehen sich zurück“, sagt Sieler. Sie verleugnen die Essstörung. Eltern, die bei Marianne Sieler im Büro sitzen, rät sie, dass Thema Essen komplett auszuklammern. „Eltern sollten mit ihrem Kind etwas unternehmen, um die Bindung zu stärken“, sagt sie.

Auch Stephan Zipfel bindet die Eltern eng ein. „Sonst hat man verloren“, sagt er. Betroffene müssten das Gefühl haben, dass sie ihren Freunden, Eltern und Geschwistern wichtig sind – unabhängig von der Essstörung. Dann könne man auch Betroffene ansprechen, die immer weniger esse. „Man kann sagen, dass man sich Sorgen macht, und Hilfe anbieten“, sagt Marianne Sieler. Wichtig sei auch, dass man in Kontakt bleibe und die Freundschaft pflege. Denn Erkrankte brauchen Zeit, um zu verstehen, dass sie Hilfe benötigen. „Wir drängen niemanden“, so Sieler. Umso mehr freut sie sich über E-Mails von Essgestörten, denen es besser geht: „Letztes Jahr war ich ein paarmal bei Ihnen wegen bulimischen Verhaltens. Das war sehr hilfreich für mich. Die Gespräche waren ein wichtiger Schritt zur Selbsterkenntnis.“

Nicole ist diesen Schritt nicht gegangen. Ein Jahr nachdem sie ihr Studium begonnen hat, ist sie in ein Kloster nach Österreich gefahren – und dort gestorben.