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Wohlfahrtswerk Baden-Württemberg nutzt Molekularküche von Ferran Adria Pflegeheime.

Stuttgart - Auf dem Speiseplan stehen an diesem Mittag im Altenburgheim in Bad Cannstatt Thüringer Bratwurst, Rotkraut und Kartoffelpüree. Was vor Ingelore Stoll und Helene Pfitzer, zwei Bewohnerinnen dieses Pflegeheims, auf dem Teller liegt, ist aber nicht gleich als Fleisch und Gemüse zu erkennen. Denn die Bratwurst hat die Form eines flachen Kuchenstückes angenommen und das Rotkraut ist genau wie das Kartoffelpüree ein appetitliches Törtchen wie aus dem Sandkastenförmchen. „Schmeckt’s?“ „Sehr gut“, nicken beide Damen eifrig.

Seit einem Jahr betritt das Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg kulinarisches Neuland und macht sich in seinen Pflegeeinrichtungen das Prinzip der Molekularküche des spanischen Sternekochs Ferran Adria zunutze. Aber nicht, um Feinschmecker-Lorbeeren zu sammeln, sondern um alten Menschen wieder mehr Genuss und Freude am Essen zurückzubringen. „Viele Menschen im Pflegeheim leiden unter Appetitlosigkeit“, schildert Claus Krafczyk, der Leiter des Hauses, das Problem. Dafür gebe es natürliche Gründe wie nachlassende Geschmacksempfindung, aber auch Schluckbeschwerden, wie sie vor allem bei Demenz oder nach Schlaganfällen und der damit einher gehenden Beeinträchtigung der körperlichen Funktionen auf treten. Das ganze Essen zu pürieren, sei früher die einzige Möglichkeit gewesen, diese Menschen ausreichend zu ernähren. Dass dabei manches Mal wohl der Appetit vollends verging, beweist ein Demonstrationsteller als Negativbeispiel aus grauer Vorzeit: Die Brei-Mahlzeit sieht aus, man muss es so drastisch sagen, wie schon mal gegessen.

Reis und Nudeln in Cremeform

Von den 115 Bewohnern im Altenburgheim bekommen etwa 30 die Mahlzeiten nach dem Prinzip der Molekularküche. „Jetzt kommen die Teller leerer zurück“, verraten die Köche Peter Stadtmüller und Kurt Gollnik. Sie gehören zu dem Cateringunternehmen Culinaris Catering, das die Küchen in mehreren Häusern des Wohlfahrtswerkes wie in der Eduard-Mörike-Seniorenanlage im Stuttgarter Süden oder im Haus Heckengäu in Heimsheim betreibt. „In jedem Haus wird frisch gekocht“, versichert Oliver Hoffmann, der Chef des Unternehmens, Tiefkühl-Pellets oder vorgeformte Industrielebensmittel würden nicht verwendet.

Dafür stehen in der Küche die Dosen mit den so genannten Texturas. Ferran Adria und sein Bruder Albert haben diese Pulver aus Algen, Sojabohnen und Pflanzenfasern entwickelt, die Gelatine oder Mondamin aus der Küche vertreiben und völlig neue und bessere Möglichkeiten zum Gelieren, Emulgieren oder Binden von Zutaten und Saucen bieten. „Zunächst werden die Speisen wie bisher püriert, anschließend rührt man die Texturas in Pulverform ein. Damit können wir jetzt heiße und kalte Gelees, cremige Pürees oder so genannte Sphären, Kugeln mit Geleehülle und flüssigem Kern, zubereiten“, schildert Gollnik. Sogar Reis und Nudeln könnten jetzt in die Cremeform gebracht werden, nicht mal an Maultaschen scheitern die Köche.

Am Anfang stand das Experiment

Große Anschaffungen beim Küchenequipment seien dafür nicht nötig gewesen, sagt Gollnik. Ausgenommen eine neue Waage, denn die Mengen der Texturas, die von Jürgen Mann und seinem HamppMedia Verlag vertrieben werden, bewegen sich im minimalen Grammbereich. Nicht nur deswegen wird das knapp bemessene Budget von gerade mal vier Euro pro Kopf und drei Mahlzeiten am Tag nicht gefährdet.

Kurt Gollnik verhehlt nicht, dass der Weg bis zur Beherrschung der neuen Technik hart und steinig war. „Noch mehr Geschäft für noch weniger Geld“, habe er zuerst gedacht, als das Ansinnen an ihn herangetragen wurde. Denn man könne die Rezepturen ja nicht einfach nachschlagen, sondern müsse ausprobieren und experimentieren. Und es habe auch viele Misserfolge gegeben. Aber jetzt mache es Spaß. Sein Dessert beweist es: Eine Mangocreme mit Sphärenschaum, der am Gaumen wie ein kleiner Ballon zerbirst und die für die Molekularküche berühmte Geschmacksexplosion ergibt.