Kein Personal für Spiele und Spaziergänge: Hunderte Kommunen in Baden-Württemberg haben ihre Öffnungszeiten reduziert oder Gruppen geschlossen. Foto: imago//Michael Bihlmayer

Der Gemeindetagspräsident spart nicht an drastischen Worten. Der Personalmangel in den Kinderbetreuungseinrichtungen sei dramatisch, die Kitas stünden vor dem Kollaps, so Steffen Jäger. Mit dieser Einschätzung erntet er keinen Widerspruch – mit seinen Lösungsvorschlägen schon.

Zum Beispiel Eppingen: Im größten Kinderhaus in der großen Kreisstadt im Landkreis Heilbronn gibt es seit Anfang Juni bis voraussichtlich Ende August keinen Ganztagsbetrieb mehr. Die über dreijährigen Kinder können nur noch an 31 Stunden pro Woche betreut werden. Bis zu den Pfingstferien waren es noch 40 Wochenstunden, und das bedeutete schon ein reduziertes Angebot. Ursprünglich hatte das Kinderhaus sogar 50 Stunden pro Woche geöffnet.

„Uns ist bewusst, dass wir die Eltern damit vor Herausforderungen stellen“, sagt der Oberbürgermeister Klaus Hollaschke (parteilos). Aber der Stadt gelinge es immer seltener, pädagogische Fachkräfte für den Ganztagsbetrieb zu motivieren. Ähnliches gilt für Ergenzingen, Weil am Rhein, Wendlingen – oder Ravensburg: Dort hat mittlerweile jede der 40 Kitas ihr Betreuungsangebot vorübergehend einschränken müssen. Die Begründung ist immer die gleiche: Es fehlt Personal.

Die Sonderregel läuft Ende August aus

Diese Beispiele befinden sich offenbar in guter Gesellschaft. Hunderte Kommunen in Baden-Württemberg hätten bereits wegen des „dramatischen“ Erziehermangels Öffnungszeiten reduziert oder gar ganze Gruppen schließen müssen, sagt Steffen Jäger, der Gemeindetagspräsident, gegenüber der dpa.

Er fordert, das Kultusministerium müsse die Gruppengrößen erhöhen und den Mindestpersonalschlüssel aufstocken, wie das wegen der Coronapandemie zulässig war. Diese Regel läuft aber am 31. August aus. Dann gelten wieder die alten Vorgaben – und „das frühkindliche Bildungssystem steuert auf einen Kollaps zu“, warnt Jäger. Würden die Sonderregeln nicht verlängert, bekämen viele Tausend Kinder im Land keinen Kitaplatz mehr.

Mehr Kinder, mehr Personal – doch der Mangel bleibt

Der Mangel hat viele Facetten. Die Zahl der Geburten in Baden-Württemberg ist seit 2007 um mehr als 16 Prozent gestiegen. Die Zahl der Kitakinder hat im selben Zeitraum – bedingt auch durch Zuwanderung – um 20 Prozent zugenommen. In Baden-Württemberg werden heute dreimal so viele Kinder unter drei Jahren in Krippen betreut wie noch 2007. Das pädagogische Personal hat sich seitdem mehr als verdoppelt.

Laut Gemeindetag haben sich die kommunalen Ausgaben für Kinderbetreuung seit 2007 landesweit mehr als verdreifacht. Der Gemeindetag hat deshalb bereits Ende Februar einen Kita-Fahrplan 2025 vorgelegt mit Maßnahmen, die die Misere beheben helfen sollen. Neben der Erhöhung von Gruppengröße und Mindestpersonalschlüssel sieht der auch den Einsatz von nicht pädagogischen Fachkräften in Kombination mit Erziehern vor.

„Damit verlieren wir Fachkräfte“

Für Claus Mellinger, Sprecher der Landesvertretung baden-württembergischer Kindertageseinrichtungen (LEBK), gehen Jägers Forderungen indes „in die völlig falsche Richtung“. Damit „verlieren wir mehr Fachkräfte, als wir Plätze schaffen“, prophezeit er, weil diese so nicht dauerhaft arbeiten wollten. Eine Einschätzung, die die Gewerkschaften Verdi und die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) teilen. Nur wenn die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen besser würden, blieben die Kitas auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig.

Die Kommunen seien nicht ohne eigenes Zutun in dieser Lage, sagt Mellinger: Corona habe die Misere in den Kitas zwar verstärkt, aber eben nicht erzeugt. Die Probleme seien seit Jahren bekannt gewesen. Die LEBK wirbt dafür, verstärkt in nicht pädagogisches Personal zu investieren, das die Erzieher von den nicht pädagogischen Aufgaben entlastet – von Verwaltungsarbeit, Küchenarbeiten oder Ähnlichem.

Vor allem aber fordert die Kita-Landesvertretung LEBK wie die SPD schon länger einen Kitagipfel in Baden-Württemberg. Dieser Forderung hat sich jüngst auch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi angeschlossen.

Was gilt

Ausblick
 Entspannung ist nicht in Sicht. Der „Fachkräfte-Radar 2021“ der Bertelsmann-Stiftung prophezeit für Baden-Württemberg bis 2030 einen zusätzlichen Bedarf an 20 000 bis 40 000 Erziehern. Hinzu kommt der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an den Grundschulen im Land, der von 2026 an schrittweise eingeführt wird.

Sonderregelung
 Das Kultusministerium hat im April die Kindertagesstättenverordnung vorübergehend geändert. Ausnahmsweise dürfen Regelgruppen in Kitas mehr als 28 Kinder aufnehmen. Der Kommunalverband Jugend und Soziales (KVJS) muss dem zustimmen. Auch vom Mindestpersonalschlüssel kann um 20 Prozent abgewichen werden. Die Regel ist befristet bis 31. August.