Schlacht um Verdun Foto: dpa

Der australische Historiker Christopher Clark bekommt für sein Buch „Die Schlafwandler“ über die verwirrenden Machtverhältnisse vor dem Ersten Weltkrieg Lob und Kritik.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs agierten viele verantwortliche Akteure mal mehr, mal weniger verantwortlich in dem Bemühen, eine drohende europäische Katastrophe abzuwenden. Der große Schurke war nicht unter ihnen, aber jeder einzelne hatte den Kampf gegen das große Verhängnis gegen andere Interessen abzuwägen: die seiner Nation, seiner Partei oder seiner selbst.

„Eine Tragödie, kein Verbrechen“ nennt der Historiker Christopher Clark den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Anders als die vielen Vorgänger, die sich an dem großen Rätsel der Weltgeschichte abgearbeitet haben, interessiert er sich nicht für die Kriegsschuldfrage, sondern für die Konstellation, für die systemischen Zwänge. Nicht den großen Ideen oder den geheimen Absichten und Komplotten gilt sein Augenmerk, sondern den Missverständnissen und ungewollten Zwängen, die in der Interaktion entstehen: ein sehr moderner Blick.

Zwei Machtblöcke hatten sich zusammengeschoben: die Entente aus Frankreich, Russland, England auf der einen und der Dreibund aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien auf der anderen Seite. Anders als im Kalten Krieg waren beide Blöcke instabil; keine Ideologie hielt sie zusammen. Der Dreibund bestand nur noch auf dem Papier, denn Italien hatte mehr Konflikte mit Österreich-Ungarn als mit jeder anderen Macht.

Lauter Seitensprünge – und darauf folgende Eifersuchtsattacken der Verbündeten – kennzeichnen das Verhältnis innerhalb der Allianzen: Berlin flirtet mit Moskau und ärgert Wien, London mit Berlin und ärgert Paris. Das einzige stabile Element im Bündnissystem ist die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich.

Im Zentrum jeder einzelnen Macht handeln mindestens drei Akteure: die beschwichtigende Diplomatie, die kriegslüsterne Generalität, der irrlichternde Monarch oder, im Falle Frankreichs, der Präsident. Clark beleuchtet sie alle, ihre Interessen, ihre konstitutionelle Stellung, die Charaktere. Genauso intensiv nimmt er die Machtfaktoren in Serbien in den Blick und streift sogar Bulgarien. Nur das Osmanische Reich bleibt fast ganz außen vor.

Meisterlich gliedert Clark die vielen    Kubikmeter Quellen, ohne platte Gegensätze aufzubauen. Kaiser Wilhelm II., Erzherzog Franz Ferdinand und der serbische Premier Nikola Pasic werden behutsam und nachvollziehbar gedeutet. Aber auch weniger bekannte französische, russische, serbische Diplomaten werden lebendig. Der Autor folgt seinen tragischen Helden bisweilen sogar bis ins Schlafzimmer. So kommt man gut durch 900 Seiten voller Leute, die man bisher kaum oder gar nicht kannte.

Auch wenn Clark selbst keine Kriegsschuldthese entwirft, muss er sich mit den vorhandenen doch auseinandersetzen. Das tut er zwar unaufgeregt und ohne Arroganz, aber das Buch liest sich teilweise dann doch wie eine Ehrenrettung der Mittelmächte. Zum systemischen Ansatz will das nicht recht passen. Zu übermächtig ist wohl in den Köpfen, auch im Clarkschen, der Paragraf des Versailler Vertrags, der Deutschland und seinen Verbündeten die „Hauptschuld“ gibt, zu lebendig auch die Erinnerung an die 1970er Jahre, als der deutsche Historiker Fritz Fischer den Siegermächten zum Entsetzen seiner Landsleute recht gab.

Anker der These von der deutschen Hauptschuld in den Quellen ist der „Kriegsrat“, den Wilhelm II. am 8. Dezember 1912 mit seinen Generälen hielt und bei dem der Kaiser tatsächlich das Szenario entwarf, das anderthalb Jahre später eintraf. Aber Wilhelm redete eben viel, wenn der Tag lang war, meint Clark.

Sicher hat auch Clark nicht immer recht. Gerade weil er nicht blufft und seine Gedanken bereitwillig preisgibt, ermuntert er auch zum begründeten Widerspruch. Wiederholt geißelt er die These, das Habsburgerreich sei ohnehin „todgeweiht“ gewesen, eine Überzeugung, die Wiens Position im Konzert der Mächte schwächte und einen Krieg gegen das anachronistische Imperium entschuldbar machte. Entgegensetzen kann Clark der These nicht mehr als den Satz, dass die Geschichte nach vorne immer offen sei.

Aber wenn es eine Konstante gab, dann jene, dass der Gedanke an die Nation sich von West nach Ost fort fraß. Das tut er bis heute. Österreich-Ungarn hatte der nationale Gedanke längst erfasst, und auf die Frage, wie die Struktur des dynastischen Gebildes mit Demokratie kompatibel gewesen wäre, hat bis heute niemand eine Antwort. Am Untergang der Donaumonarchie, darf man folgern, hätte wohl auch das feinste Kabinettstückchen nichts geändert.