Paula Lutum-Lenger, Ausstellungsleiterin im Haus der Geschichte in Stuttgart Foto: Peter Petsch

Paula Lutum-Lenger, Ausstellungsleiterin im Haus der Geschichte, spricht über Sinneserfahrungen im Ersten Weltkrieg.

Paula Lutum-Lenger, Ausstellungsleiterin im Haus der Geschichte, spricht über Sinneserfahrungen im Ersten Weltkrieg.

Frau Lutum-Lenger, der Erste Weltkrieg war für unsere Groß- und Urgroßeltern eine apokalyptische Erfahrung. Heute ist er aus dem Bewusstsein der meisten Deutschen verschwunden. Woran liegt das?
Ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Natürlich ist der Zweite Weltkrieg viel präsenter. Das hängt auch mit dem Holocaust zusammen. Im Moment allerdings besteht ein riesiges öffentliches Interesse am Ersten Weltkrieg. Das zeigt sich zum Beispiel in der Forschung und in den Medien. Und die vielen Bücher, die momentan zum Teil in großer Auflage erscheinen, sollen ja wohl von irgendjemandem gelesen werden.
Aber ist das nicht der übliche Jahrestagstrubel, der zumindest in Deutschland schnell wieder abebbt?
Ich gebe Ihnen recht, dass der Erste Weltkrieg in England und Frankreich sehr viel präsenter ist als in Deutschland. Und zwar seit jeher.
Hat das auch damit zu tun, dass die Schlachten allesamt jenseits der Grenzen geschlagen wurden?
Ich glaube schon. Denn Erinnerung braucht Orte. Verdun zum Beispiel hat einen festen Platz in der französischen Erinnerungskultur. So gut wie jeder französische Soldat hat in Verdun gekämpft, deshalb fahren auch alle Angehörigen dorthin. An der Somme hingegen, wo viele Engländer und Soldaten aus dem britischen Weltreich gekämpft haben, ist die Erinnerungskultur fest in der Hand des Commonwealth.
In Deutschland erinnern lediglich vermooste Gedenktafeln an die Ereignisse . . .
In Frankreich oder Belgien sehen Sie noch Krater und Schützengräben. So etwas haben wir nicht. Das heißt aber nicht, dass man den Krieg hierzulande nicht gespürt hätte. Mit den Toten und Verletzten kam der Krieg gleich im Jahr 1914 auch in die Heimat. Später machte ihn der Hunger gegenwärtig. Dann gab es bereits erste Luftangriffe. Aber das alles hat nicht solche Spuren hinterlassen wie auf den westeuropäischen Schlachtfeldern.
Wie wird sich dieser Jahrestag auf das Verhältnis von Deutschen und Franzosen auswirken? Schließlich wird beiden das Grauen noch einmal vor Augen geführt.
Das ist jetzt noch schwer einzuschätzen. Ich glaube, die Wirkung eines Jahrestags hängt auch davon ab, wie man ihn begeht. Dass einige Museen im Dreiländereck am Oberrhein das jetzt grenzüberschreitend tun, halte ich für einen sehr guten Ansatz. Das Wichtigste ist doch, dass heute die Menschen, deren Urgroßväter und Großväter sich in den Schützengräben gegenüberlagen, miteinander über die jeweiligen Erlebnisse sprechen können. Es war ja für alle Seiten die Fastnacht der Hölle, für die französischen Soldaten ebenso wie für die englischen und für die deutschen.
Wieso Fastnacht der Hölle?
Das ist der Titel unserer Ausstellung und eine Begriffsprägung des Schriftstellers Ernst Jünger. Er hat das unter anderem in einem Brief an seine Mutter geschrieben, in dem er den infernalischen Lärm und den Gestank an der Front beschreibt.
Warum stellen Sie die Sinneserfahrung ins Zentrum Ihrer nächsten Ausstellung im Haus der Geschichte? Das riecht ein wenig nach Geisterbahn.
Es geht nicht um Spektakel. Wir haben diesen Ansatz gewählt, weil der erste moderne und industrielle Krieg alle Maßstäbe der Sinneswahrnehmung sprengte. Wir wollen erzählen, wie die Menschen diesen Krieg wahrnehmen. Wie er klingt, wie er schmeckt und riecht. Und wie er die Sinne zerstört.
Wird man etwas hören können?
Ja. Es gibt Originaltöne. Der Lärm ist übrigens etwas, was immer wieder in Feldpostbriefen und Tagebüchern beklagt wird.
Und Gerüche?
Auch das haben wir. Es gibt zu riechen, und es gibt zu schmecken. Wir haben zusammen mit einem Stuttgarter Bäcker einen Kriegszwieback gebacken, der nach einem Rezept der Zeit hergestellt ist und den man probieren kann. Aber ich will nicht zu viel verraten. Unsere Frage war jedenfalls: Wie erleben die Menschen den Krieg an der Front und in der Heimat?
Liest man da nicht besser die Schriftsteller Erich Maria Remarque oder Ernst Jünger, um das zu erfahren?
Es gibt auch über solche Stilisierungen hinaus viel zu lesen, Auszüge aus Briefen zum Beispiel oder aus Tagebüchern. Aber eine Ausstellung will darüber hinaus etwas zeigen. Wir arbeiten mit den dinglichen Überresten dieses Krieges und versuchen, sie zum Sprechen zu bringen.
Wo bekommen Sie die her?
Meist aus Privatbesitz. Man bietet uns noch immer viele Feldpostbriefe an, ganze Kisten vom Großvater. Es ist unglaublich, welches Spektrum es da gibt. Immer wieder geht es darin um sinnliche Erfahrung, um Kälte, um Hunger, um Gestank. Die Soldaten bestellen sich Eau de Cologne, mit dem sie die Jacke tränken, damit es wenigstens in ihrem engsten Umfeld nicht mehr so stinkt. Solche Fläschchen findet man bei Ausgrabungen.
Welche Botschaft an junge Menschen haben Sie mit dieser Ausstellung?
Es ist schwierig, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wie der Erste Weltkrieg gern genannt wird, auf engem Raum umfassend zu erklären. Wir versuchen deshalb in einzelnen Geschichten Antworten auf die Frage zu geben, was dieser Krieg mit den Menschen gemacht hat. Welche Hypotheken er ihnen hinterlassen hat. Denn es hat ja letztlich zweier Weltkriege bedurft, um den Schock so groß werden zu lassen, dass man in Europa umdachte. Und noch immer gibt es Nachwirkungen und ungelöste Probleme. Schauen Sie auf die Konflikte auf dem Balkan.
Fehlt ein monumentaler Kinofilm oder ein Fernsehknaller, um die junge Generation für das Thema zu interessieren?
Große Filme, das wissen wir, können ein breites Interesse an einem Thema wecken. Denken Sie nur an „Valkyrie“ mit Tom Cruise. Der Film hat dazu geführt, dass man den Namen Stauffenberg nun in der ganzen Welt kennt. Dies kann eine Ausstellung nicht leisten. Der Weg eines Museums zu den Schülern führt in der Regel über den Lehrer. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass der Erste Weltkrieg in den Lehrplänen keine so große Rolle spielt. Die Lehrer sagen uns, dass er eigentlich nur als Ursache für den Zweiten Weltkrieg thematisiert wird. Sie sind deshalb dankbar für die Ausstellung, weil sie Gelegenheit gibt, das Thema zu vertiefen.

Die Sonderausstellung „Fastnacht der Hölle – Der Erste Weltkrieg und die Sinne“ ist von 4. April 2014 bis 1. März 2015 im Haus der Geschichte in Stuttgart zu sehen.