Früh globalisiert: Bosch-Niederlassung in London um 1910 Foto: Bosch

Vor dem ersten Weltkrieg war die Welt schon einmal ziemlich globalisiert. Besonders die Wirtschaft war weltweit aufgestellt.

Stuttgart - Als im Herbst 1912 der erste Balkankrieg losbrach und noch nicht abzusehen war, dass aus der Auseinandersetzung ein noch verheerenderer Weltkrieg entstehen könnte, beschlich Robert Bosch ein seltsames Gefühl. „Ich bezahle lieber zehn Millionen Mark, wenn ich dadurch einen Krieg vermeiden kann“, sagte der Gründer des heutigen Weltkonzerns aus Stuttgart damals zu einem befreundeten Jagdkollegen. Der schwäbische Firmengründer, dem ein feines Gespür für Stimmungen und ein Blick fürs große Ganze nachgesagt werden, sollte mit seiner düsteren Vorahnung recht behalten. Kurz nach der in Boschs „Erinnerungen“ verbürgten Begebenheit stand ganz Europa unter Waffen. In den kommenden Jahren sollten Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern des Kontinents ihr Leben verlieren. Alte Monarchien sollten hinweggefegt werden, eine neue Weltordnung Gestalt annehmen.

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts sollte aber auch die Spielregeln in der Weltwirtschaft von Grund auf durcheinanderwirbeln. Im Schlepptau der bis aufs Messer geführten politischen Auseinandersetzung um die Vorherrschaft auf dem Kontinent wurde auch in Wirtschaftsfragen Kooperation durch Konfrontation ersetzt. An die Stelle von internationaler Arbeitsteilung trat Isolation. Abschottung war bis Mitte der 1920er Jahre die beherrschende Vokabel auf dem diplomatischen Parkett.

„Für Firmen wie Bosch war das eine Katastrophe“, sagt Bosch-Unternehmenshistoriker Dietrich Kuhlgatz. Gründer Robert Bosch hatte früh begonnen, das Geschäft zu internationalisieren. Bereits ein gutes Jahrzehnt nach der Unternehmensgründung 1886 wurden erste Auslandsgesellschaften eingerichtet. Wenig später war das Unternehmen auf allen wichtigen Auslandsmärkten präsent. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs erwirtschaftete man gut 88 Prozent seines Umsatzes im Ausland.

Ähnlich stellte sich die Lage in der gesamten deutschen Wirtschaft dar. Diese blickte 1913 auf mehr als zwei Jahrzehnte Hochkonjunktur zurück. Seit der Reichsgründung 1871 hatten sich mit dem Maschinenbau, der Elektrotechnik und der Chemiebranche Leitsektoren herausgebildet, deren Produkte zum Feinsten gehörten, was damals weltweit zu haben war. Entsprechend groß war die Nachfrage aus anderen Ländern.

Die Firmen AEG und Siemens versorgten die Welt mit Zügen, Telegrafenleitungen und Generatoren. Carl Zeiss aus Jena lieferte Optiken und Feinmechanik, und die deutschen Chemieriesen BASF, Bayer und Höchst brachten die Welt mit neuartigen Synthesefarben – einem der wichtigsten chemischen High-Tech-Produkte – zum Leuchten. Bei rund 90 Prozent lag der Weltmarktanteil der „großen drei“ vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Rohstoffe für die Produkte kamen aus anderen Ländern: Baumwolle aus Indien, Nahrungsmittel aus Asien oder Südamerika. 1890 nahm Shell seine ersten Öltanker in Betrieb, um die Industriestaaten mit dem neuen „Schmiermittel“ der Industrialisierung zu versorgen.

Vorbereitet wurde die Entwicklung durch die bis heute vorherrschende ökonomische Theorie, nach der Arbeitsteilung und Freihandel die Wohlfahrt generell erhöhen. Rund ein Jahrhundert nach Erscheinen von Adam Smiths Schlüsselwerk „Vom Wohlstand der Nationen“ (1776) hatte dessen Lehre auf die reale Politik durchgeschlagen. Zollschranken wurden weltweit abgebaut. Von Vergünstigungen, die einem Handelspartner gewährt wurden, profitierten auch andere Länder.

Diese Doktrin der Meistbegünstigung setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer weiter durch und wirkte als Treibsatz des internationalen Handels. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs das Handelsvolumen jedes Jahr um 3,5 bis fünf Prozent und damit deutlich stärker als die weltweite Wirtschaftsleistung. „Gemessen am internationalen Handel war die Globalisierung am Vorabend des Ersten Weltkriegs enorm fortgeschritten“, sagt Jochen Streb, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Mannheim.

Nimmt man die Handelsverflechtungen zum Maßstab, war die Welt 1913 sogar weitaus tiefgreifender globalisiert als in den 1980er Jahren. Der Anteil von Ex- und Importen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Deutschen Kaiserreichs betrug 1913 mehr als 35 Prozent – ein Wert, der in der Bundesrepublik erst Anfang der 1990er Jahre wieder übertroffen werden sollte. Ähnlich verhielt es sich in Frankreich – der klassischen Automobilnation der damaligen Zeit –, in Großbritannien oder in den USA. Wie selbstverständlich lagen in deutschen Auslagen französische Trüffel, Fleischprodukte aus Uruguay und Argentinien (Liebig’s Fleischextrakt) oder Palmfett (Palmin) aus Asien – ständig sinkender Frachtraten und moderner Kühlschiffe für Nahrungsmittel sei Dank. Nicht nur die Industrie profitierte also, auch die Endkunden genossen die Segnungen der Globalisierung auf ihrem Mittagstisch in vollen Zügen.

Global aufgestellt war aber auch die Finanzwirtschaft. Die Vergabe langfristiger Kredite und die Höhe der Direktinvestitionen im Ausland bewegten sich um die Jahrhundertwende auf neue Rekordwerte zu. Für den Handel wichtiger Rohstoffe wie Öl, Weizen oder Reis bildeten sich Börsen, über die Geld kreuz und quer über den Globus verschoben wurde. Firmen produzierten vermehrt direkt in Wachstumsmärkten und investierten dort auch. Der Siemenskonzern war einer der ersten, die diesen Weg gingen. Aber auch Bosch eröffnete bereits 1905 sein erstes Produktionswerk außerhalb Stuttgarts – in Frankreich. 1912 folgte eine Fabrik in den USA. Handelsvertretungen hatte man damals schon überall in der Welt. Kurz: In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg war die Welt global wie nie.

Nach 1914 änderte sich dies abrupt. Der Globalisierungsschub der Vorkriegsjahre mündete übergangslos in Abschottung. Die Welt zerfiel in Handelsblöcke. Regierungen handelten nationalistisch und setzten auf Autarkie. Der Weltmarkt brach auseinander. Der „freihändlerische Kosmopolitismus“ fiel zurück in eine Epoche „eher dumpfer, protektionistischer Selbstbezogenheit“, schreiben Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf in ihrem globalisierungskritischen Standardwerk „Die Grenzen der Globalisierung“.

„Damals wurden die traditionellen Lieferketten durchbrochen“, sagt Forscher Streb. Stattdessen habe man begonnen, rein nationale Industrien aufzubauen. „Hochprotektionistisch“ nennt der Wirtschaftshistoriker das allgemeine Klima der Zeit.

Bosch traf es hart. Das Geschäft brach zu Kriegsbeginn in sich zusammen. Das Unternehmen verlor nahezu alle Auslandsgesellschaften. Vor allem der Patentschutz funktionierte nicht mehr. Mit den Bosch-Erfindungen produzierten die enteigneten Auslandswerke nun Konkurrenzprodukte. Von einer „zweiten Gründung“ nach dem Krieg spricht Firmen-Historiker Kuhlgatz. Ein Vorgang, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg übrigens wiederholen sollte.

Einen wenig beachteten Nebeneffekt hatte die Zersplitterung der Welt durch Krieg und Zerstörung allerdings auch. Nachdem das Erreichen von Exportüberschüssen bis zum Ersten Weltkrieg das wirtschaftspolitische Mantra schlechthin dargestellt hatte, gewann nun das Inlandsgeschäft als wirtschaftlicher Motor neue Bedeutung. Binnenwirtschaftliche Zielsetzungen wie eine aktive Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik sowie Inflationsbekämpfung wurden überall auf der Welt wichtiger. Nicht nur Exporte und internationaler Handel sollten es richten, sondern die Gesamtwirtschaft sollte vorangebracht werden, sagt Wirtschaftshistoriker Streb. Ein Ansatz, mit dem speziell die Bundesrepublik übrigens gut gefahren ist. Fast durchgängig gehört Deutschland seit Kriegsende zu den drei stärksten Exportnationen der Welt.

STUTTGART - Ein Kriegsausbruch beflügelt das Mitteilungsbedürfnis. Das war auch schon vor 100 Jahren so mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Das Marbacher Literaturarchiv hat es sich zur Aufgabe gemacht, umfassend die schriftlichen Hinterlassenschaften von Literaten, Wissenschaftlern und Künstlern von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an zu sammeln. Für die gesamte Kriegsdauer, also vom 1. August 1914 an bis zum 11. November 1918, kommt es auf 18 544 Archivalien, allein 4229 davon entstanden zwischen dem 1. und dem 31. August 1914. Und dabei sind noch gar nicht alle Dokumente im Literaturarchiv nach ihrem Entstehungsdatum erfasst.

Anfangs gibt es noch ein Nebeneinander von Krieg und Alltag. Der Elsässer Ernst Stadler, der im September 1914 mit 30 Jahren nach Toronto reisen wollte, um dort an der Universität dem Ruf als Professor zu folgen, stattdessen aber in Straßburg einen Stellungsbefehl erhielt, eröffnet am 31. Juli 1914 sein Kriegstagebuch mit folgenden Sätzen: „Vorlesung am Vorabend abgesagt. Morgens Einkäufe: Revolver. Nachmittags gegen 3 Uhr verkünden Extrablätter den ,drohenden Kriegszustand‘. Aufregung in der Stadt.“ Ähnlich lakonisch hält es Franz Kafka: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule“, bemerkt er am 2. August 1914.

Erste direkte Kriegseindrücke gibt es von Stadler. „Es ist Sonntag. Die Glocken läuten. Der Hauptmann: ‚Betet nur, das verhütet Blutvergießen.‘ Mittags esse ich mit dem Fahnenjunker Guth im Gasthaus Meyer in St. Moritz, wo ich Quartier habe. Die Dorfbewohner werden zum Schanzarbeiten herangezogen. Wir fällen Obstbäume und hauen die Reben ab. Der Hauptmann bedauert. Die ersten Nachrichten von Patrouillenzusammenstößen. Spione erschossen. Die Bevölkerung ist freundlich und verängstet“, notiert Stadler schon am 1. August 1914. In der Sommerfrische in einem belgischen Strandbad wird dies anders wahrgenommen. Die 21-jährige Arzttochter und Dichterin Leonore Landau lobte die allgemeine Mobilmachung und begrüßte die Aufhebung der Standesunterschiede: „Es herrscht eine solche Verbrüderung, solche Opferwilligkeit, daß immer mehr der Krieg mir als gut erscheint. Denn ist nicht der Kampf eine Naturnotwendigkeit wie das Wachsen einer Blume, die Nahrung aus dem Tode saugt“, schwärmt sie am 2. August 1914. Widersprüchlichkeiten stellt sie fest, doch stören sie diese offensichtlich nicht sonderlich. So fügt sie am 20. September 1914 hinzu: „Heute ist jüdisches Neujahr. Ich war nicht in der Synagoge, weil ich nicht Kindergarten versäumen wollte. Heute wird von allen deutschen Juden gebetet, daß die gemeinen Russen, Franzosen u. s. w. Schläge bekommen. Zur gleichen Zeit auf der anderen Seite beten die Juden zu demselben Gott um Vernichtung der Deutschen. Eine seltsame Welt!“

Der Volkshochschullehrer Theodor Kappstein hat Geschäftssinn. Am 7. August 1914 geht folgendes Schreiben von ihm an Robert Kröner, damals Besitzer der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung in Stuttgart: „Sollten wir den Soldaten nicht in den nächsten Monaten in Form von Flugblättern die geistigen Schätze unserer Dichter der Gegenwart und der klassischen Vergangenheit bequem zugänglich machen, mit dem Blick auf den Krieg und die Stärkung des Deutschtums? Ich bin bereit, die Leitung solcher poetischen Flugblätter zu übernehmen. Nicht umsonst; denn ich bin infolge der Wirren meiner festen Einnahmen beraubt und schwebende erhebliche Abschlüsse haben sich zerschlagen oder wurden vertagt.“

Hin und her gerissen ist Armin T. Wegner, der sich als Kriegskorrespondent der Breslauer „Morgenpost“ freiwillig als Sanitäter gemeldet hat. Das erfährt seine Mutter am 9. August 1914: „Ich habe so viel Bewunderung für dieses menschliche Uhrwerk, das in Deutschland in diesen Tagen ins Laufen kam. Aber mir bleibt bei aller Begeisterung etwas im Halse stecken. Irgend etwas war mir fremd. Selbst noch der Schmerz der Leute war mir fremd, weil mein Gefühl sich von dem nicht überzeugen konnte, was in meinem Kopf wohl klar war: die Notwendigkeit dieses kriegerischen Auszugs.“

Mit zunehmender Ernüchterung über den Kriegsverlauf lässt das Mitteilungsbedürfnis allgemein nach. Nicht so bei dem Schriftsteller und Philosophen Ernst Jünger, der als Freiwilliger am Krieg teilnahm: „Ist ein Gewehrschuß auch auf weitere Entfernung auf mich abgegeben, so ist der Klang eigenartig scharf. Schießt ein Freund von mir in der Richtung auf den Feind, so ist der Schuß dröhnend und lang aushallend.“ Noch viele weitere Seiten räsonierte der 21-Jährige am 9. Januar 1916 detailgetreu über Kampfgeräusche an der Front in seinem Kriegstagebuch, die Grundlage für sein erstes, 1920 erschienenes Buch „In Stahlgewittern“.

Ganz anders klingt es bei dem Schriftsteller Friedrich Gundolf. Ein Auszug aus seinem Brief aus Verdun vom 30. November 1916 an seine spätere Ehefrau Elisabeth Salomon: „Ein grundlos und überschwenglich dreckiger halbverwüsteter Unterholzwald, wo erste Ansiedler mühselig sich Wohnung und Leben herrichten . . . nur vom Dreck machst du dir keine Vorstellung. Dazu keine Waschmöglichkeit, ein unbeschreiblicher Raummangel.“ Im letzten Kriegsjahr ist auch bei Jünger die Stimmung gedämpfter: „Es ist doch ein merkwürdiges Gefühl, wenn ein Mensch, der einem körperlich so nahe ist, unter dem Leibe weggeschossen wird. Es ist dies wohl die nächste Form, in der der Tod an einem vorbeistreichen kann“, hält er am 8. August 1918 in seinem Tagebuch fest.

Das Schlusswort gehört den Dichtern. Klabund aus einem Schweizer Lazarett am 9. November 1918 an seine Frau: „Wie der Mann im Märchen, der auszog einen goldenen Schatz zu heben, ihn auch gewann, bis ihm ein böser Zauber alles nahm, so kehr’ ich nach Deutschland zurück, müde und elend, ein rechter Landstreicher, der nicht weiß wohin, mit leeren Händen und übervollem Herzen.“ Ganz bitter stellt der Dramatiker Arthur Schnitzler am 12. November 1918 fest: „Ein welthistorischer Tag ist vorbei. In der Nähe sieht er nicht sehr großartig aus.“