Sebastian Kirst ist Teamleiter bei der Wohnungsnotfallhilfe der Erlacher Höhe Calw-Nagold. Foto: Verstl  

Es kann schnell gehen mit dem sozialen Abstieg. So wie bei Hans Müller. Der 56-Jährige, der im Kreis Calw wohnt und in Wirklichkeit anders heißt, war bis 2016 rund 30 Jahre lang bei einem Autohersteller beschäftigt. Eine scheinbar sichere Existenz.

Kreis Calw - Dann geschah ein Unfall. Müller konnte nicht mehr arbeiten. Zunächst brauchte er die Abfindung seines Arbeitgebers und seine Ersparnisse auf. Inzwischen ist seine Situation prekär. Sein Energieversorger hat ihm den Strom abgestellt, durch die nicht bezahlten Rechnungen hat er Schulden. Mit einem leeren Heizöltank sitzen der gehbehinderte Müller und seine asthmakranke Frau in ihrem renovierungsbedürftigen Häuschen.

Müllers Antrag auf Hartz IV läuft seit Wochen. Bislang kam kein Geld vom Jobcenter. Wie viele andere Anspruchsberechtigte hat er erst spät seinen Antrag gestellt. Und ohne die Unterstützung von Sebastian Kirst, Teamleiter Wohnungsnotfallhilfe bei der Erlacher Höhe (EH) Calw-Nagold, würde es noch länger dauern. Denn die bürokratischen Hürden sind hoch, Müllers Fall ist wegen des Wohneigentums, der familiären Situation und den Stromschulden besonders komplex.

Auf Lebensmittelspenden angewiesen

"Herr Müller hat sich vorbildlich verhalten", stellt Wolfgang Sartorius, Vorstand der EH, fest. Er habe zunächst seine Ersparnisse aufgebraucht, bevor er staatliche Hilfe in Anspruch beantragt hat. Mittlerweile ist er darauf angewiesen, dass ihm die diakonische Einrichtung mit Lebensmitteln aushilft.

Die Energiekrise dürfte dazu führen, dass Fälle wie die von Hans Müller drastisch zunehmen werden. Schon jetzt sind laut Sartorius die Hartz-IV-Regelsätze "lebensfremd". Die Corona-Pandemie führte bei vielen Menschen zu deutlichen Einkommenseinbußen. Und jetzt kommt die Energiekrise. Sartorius spricht Klartext: "Im Moment treffen explodierende Energiepreise Menschen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Für Menschen in Armutslagen sind die Preissteigerungen bei Energie, Lebensmitteln und Bedarfen für den Alltag am gravierendsten." Das könne in vielen Fällen zu existenzbedrohenden Krisen führen. Ja, es gelte "die größte soziale Katastrophe unserer Zeit zu verhindern oder zumindest abzumildern".

Situation wird sich in den nächsten Monaten verschärfen

Die bisher von der Bundesregierung getroffenen Einzelmaßnahmen – von der Absenkung der Spritsteuer über das Neun-Euro-Ticket bis hin zu verschiedenen Einmalzahlungen – reichen nicht aus. Es gelte zu verhindern, dass die Energiearmut zur absoluten Armut wird. Der Fall Müller zeige, wie kurz der Weg ist, so Sartorius.

Noch sei kein dramatischer Anstieg von Fällen akuter Notsituationen wie Wohnungsnot festzustellen. Das liege daran, dass in bestehenden Mietverhältnissen die Vorauszahlungen für die Energiekosten noch nicht angepasst sind. Die Situation wird sich laut Sartorius in den nächsten Monaten deutlich verschärfen.

Bürgergeld ist "Schritt in die richtige Richtung"

Einen Lichtblick sieht die EH im Bürgergeld, das zum 1. Januar 2023 kommen soll. Der Fall Müller zeige, wie komplex die Sozialgesetzgebung sei, sagt Andreas Reichstein, Abteilungsleiter Erlacher Höhe Calw-Nagold. Das soll sich ändern. So ist beispielsweise vorgesehen, Antragstellern einen Vertrauensvorschuss zu gewähren, um eine aktuelle Notlage wie bei Hans Müller zu überbrücken. Das Bürgergeld sei jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung.

Die EH will weg von Einzelmaßnahmen nach dem Gießkannenprinzip, hin zu einem einheitlichen Konzept, dass den wirklich Bedürftigen hilft, so Sartorius. Die Einrichtung schließt sich den Forderungen der nationalen Armutskonferenz an: Die Energiekosten für Einkommensarme bis zu einem Verbrauch, der alle existenziellen Bedürfnisse sichert, bedingungslos zu übernehmen; unbürokratische Übernahme erhöhter Abschläge und Nachzahlungen bei Heizkosten durch Jobcenter und Sozialämter; Herausnahme der Stromkosten aus dem Regelsatz und Übernahme der tatsächlichen, am Stromspiegel orientierten Kosten; ein gesetzliches Verbot von Gas- und Stromsperren für Privathaushalte.

Info: Erlacher Höhe

Die Erlacher Höhe (EH), Großerlach (Rems-Murr-Kreis) hilft Menschen in sozialen Einrichtungen. Die diakonische Einrichtung erreicht in sieben Landkreisen Baden-Württembergs werktäglich 1600 Menschen. Geholfen wird Menschen in Wohnungsnot und Obdachlosigkeit, in Armut und Arbeitslosigkeit, Suchtkranken, psychisch Beeinträchtigten sowie Menschen mit Pflegebedarf, Teilhabeeinschränkungen und Jugendlichen.