Recep Tayyip Erdogan kämpft um den Machterhalt. Foto: dpa/Christoph Soeder

Der türkische Staatschef verteilt Wahlgeschenke, die Milliarden kosten. Wer 20 Jahre Beiträge eingezahlt hat, kann sofort in Rente gehen.

Für mehr als zwei Millionen Beschäftigte in der Türkei beginnt das neue Jahr unverhofft mit einer guten Nachricht: Sie brauchen ab 2023 nicht mehr zu arbeiten. Staatschef Recep Tayyip Erdogan schickt sie persönlich in den Ruhestand – nicht ganz uneigennützig. Erdogan hofft, dass er durch dieses Geschenk bei den bevorstehenden Wahlen seinen Job als Präsident behält.

Spätestens im Juni müssen die Wahlberechtigten in der Türkei über ein neues Parlament abstimmen und ein Staatsoberhaupt wählen. Der genaue Termin steht noch nicht fest, aber der Wahlkampf läuft bereits. Und Erdogan, der seit nun 20 Jahren die Geschicke des Landes bestimmt, zieht alle Register. Denn Meinungsforscher bescheinigen ihm schwächelnde Zustimmungswerte. 85 Prozent Inflation und wachsende Armut drücken auf die Stimmung.

Rente schon nach 20 Jahren Beiträgen

Erst vor einer Woche gab Erdogan eine Erhöhung des staatlich festgesetzten Mindestlohns auf 8500 Lira (430 Euro) bekannt. Das ist fast doppelt so viel wie im Januar 2022. Und nun der Rentenknüller: Wer seit September 1999 mindestens 20 Jahre lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat, kann sofort in Rente gehen. Bisher galt in der Türkei ein Renteneintrittsalter von 58 für Frauen und 60 für Männer. Nach den neuen Regeln können schon Mittvierziger den Ruhestand genießen. Betroffen sind rund 2,3 Millionen Menschen. Die Zahl der türkischen Rentnerinnen und Rentner steigt dadurch sprunghaft von 13,9 auf 16,2 Millionen. Billig ist das Wahlgeschenk nicht: Allein im ersten Jahr werden die Frühpensionierungen die Rentenkassen mit 250 Milliarden Lira (12,5 Milliarden Euro) belasten, zitiert die Nachrichtenagentur Bloomberg einen Insider. Arbeitsminister Vedat Bilgin bezifferte die Kosten auf „mehr als 100 Milliarden Lira“ – wie viel mehr sei noch unklar, weil man nicht wisse, wie viele Menschen nun in Rente gehen wollen.

Experten befürchten Defizite

Regierungsunabhängige Experten warnen vor horrenden strukturellen Defiziten in den Rentenkassen. Denn die Geburtenrate geht zurück, die noch „junge“ türkische Gesellschaft beginnt zu altern. Ökonomen fragen, ob die Türkei es sich volkswirtschaftlich leisten kann, wenn immer weniger Menschen arbeiten. Schon jetzt liegt die Erwerbstätigenquote der über 15-Jährigen nur bei 43,5 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland sind es fast 60 Prozent.

Aber Erdogan scheint bereit, selbst die wirtschaftliche Zukunft seines Landes zu opfern, um seinen Machterhalt zu sichern. Dass der Staatschef für den Wahlsieg alle Hebel in Bewegung setzt, erfährt jetzt auch Ekrem Imamoglu, Istanbuls Oberbürgermeister. Der 52-Jährige gilt in Meinungsumfragen als einer der aussichtsreichsten Herausforderer Erdogans. Ob er aber überhaupt antreten kann, ist ungewiss. Mitte Dezember verurteilte ein Gericht Imamoglu wegen Beamtenbeleidigung zu zweieinhalb Jahren Haft und einem Politikverbot. Regierungskritiker sehen dahinter einen Versuch Erdogans, Imamoglu politisch kaltzustellen.