Nach mehreren tödlichen Angriffen von Hunden versucht die geschwächte Erdogan-Regierung, durch ein neues Gesetz Bürgernähe zu zeigen. Betroffen sein könnten bis zu vier Millionen Tiere. Prominente, Tierschützer und sogar Parteigänger machen Front gegen den Plan.
Straßenhunde in der Türkei haben es bisher recht gut. Sie müssen laut Tierschutzgesetz von den Kommunen kastriert, geimpft und gefüttert werden. Aber jetzt will die Regierung sie einschläfern lassen. Mehrere Angriffe von Straßenhunden auf Menschen in jüngster Zeit haben die Regierung aufgeschreckt. Im südtürkischen Adana wurde eine 71-jährige Bäuerin auf ihrem Acker von Hunden angefallen und starb an ihren Verletzungen. In Mardin wurde ein siebenjähriger Junge von Hunden schwer verletzt. Allein seit 2022 seien rund hundert Menschen in der Türkei von Straßenhunden getötet worden, melden regierungsnahe Medien. Die Türken erwarteten eine Lösung des Problems, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan jetzt.
Seine Partei AKP will noch im Juni einen Gesetzentwurf vorstellen, der die Massentötung der vier Millionen Straßenhunde im Land ermöglichen soll. Die Regierung will mit dem Plan zeigen, dass sie die Alltagsprobleme der Menschen ernst nimmt; die AKP führt ihre Niederlage bei den Kommunalwahlen im März unter anderem darauf zurück, dass sie nach mehr als 20 Jahren an der Macht auf viele Wähler abgehoben wirkt.
Nach dem neuen Gesetz sollen die Stadtverwaltungen die Straßenhunde einsammeln, fotografieren und die Bilder im Internet veröffentlichen. Die Hunde können dann adoptiert werden; vor der Übergabe an ihre neuen Besitzer werden sie kastriert und durchgeimpft. Wenn genügend Hunde einen Besitzer fänden, seien „weitere Schritte“ überflüssig, sagte Erdogan. Findet ein Hund aber kein neues Heim, wird er nach dem neuen Gesetz eingeschläfert. Das bestehende Tierschutzgesetz schreibt vor, Straßenhunde zu kastrieren und ansonsten in Ruhe zu lassen. Die türkischen Stadtverwaltungen sind verpflichtet, einen Teil ihres Haushaltes für die Versorgung der Tiere aufzuwenden. Das geschehe in der Praxis aber nicht, sagt Gülay Ertürk, Vorsitzende des türkischen Tierärzteverbandes. Das Geld werde für andere Zwecke ausgegeben. „Es wird nicht kontrolliert, ob das Gesetz umgesetzt wird“, sagte Ertürk unserer Zeitung.
Die Zahl der Straßenhunde nimmt unterdessen weiter zu, auch weil sich manche Besitzer weigern, ihre Hunde kastrieren zu lassen. Ein Bauer am Stadtrand von Istanbul erzählt, dass er die Welpen seiner Wachhündin aussetzt, um sie von der Stadt versorgen zu lassen. Allein in Istanbul wird die Zahl der Straßenhunde auf 400 000 geschätzt.
Von einer landesweiten „Euthanasie-Kampagne“, wie sie die Regierung plane, hält Tierärztin Ertürk nichts. „Das würde das Problem nur für ein paar Jahre lösen.“ Schon vor mehr als einem Jahrhundert versuchte die damals osmanische Verwaltung von Istanbul, die Straßenhunde loszuwerden, indem sie Zehntausende Tiere einsammeln und auf eine unbewohnte Insel im Marmara-Meer vor der Stadt bringen ließ, wo sie verhungerten. Die verbliebenen Hunde in Istanbul vermehrten sich jedoch weiter.
Ertürk und andere Experten sehen die Lösung in einer flächendeckenden Kastration der Straßenhunde. „Innerhalb von einigen Monaten sollten 70 Prozent der Hunde kastriert werden“, sagt sie. Damit könnte die Vermehrung gestoppt werden. In Zusammenarbeit von Stadtverwaltungen und Tierkliniken sei das auch machbar. Das Argument, dass die Kastrationen mit 92 Euro pro Tier zu teuer seien, lässt Ertürk nicht gelten: Einen Hund einzuschläfern, sei mit 64 Euro auch nicht umsonst.
Mit ihrem Protest gegen das Vorhaben der Regierung haben die türkischen Tierärzte und Tierschützer die Opposition, einen Teil der Öffentlichkeit und viele Prominente hinter sich. „Ein Massaker kann keine Lösung sein“, erklärte der Komponist, Schriftsteller und ehemalige Parlamentsabgeordnete Zülfü Livaneli. Der Popsänger Tarkan, ein Megastar in der Türkei, verlangte, die Stadtverwaltungen sollten mehr Geld in Kastrationen und den Bau von Tierheimen stecken, statt die Hunde zu töten. Selbst im Regierungslager gibt es Kritik. Einige AKP-Abgeordnete äußerten sich nach Presseberichten gegen die Massentötung.
Inzwischen deutet die Regierung an, dass der ursprüngliche Plan abgeschwächt werden könnte. Abdullah Güler, Mitglied der AKP-Fraktionsführung im türkischen Parlament, sagte dem Sender Kanal 7, schließlich sei es seine Partei gewesen, die vor zwanzig Jahren das erste Tierschutzgesetz der Türkei in Kraft gesetzt habe. Oberstes Ziel bleibe es, Straßenhunde in Tierheimen unterzubringen. Lediglich aggressive und tollwutkranke Hunde sollten eingeschläfert werden. Tierärztin Ertürk meint, die Regierung rudere zurück, weil eine „Euthanasie-Kampagne“ nicht durchzusetzen sei: „Die türkische Gesellschaft wird das nicht mitmachen.“