Foto: Friederichs

Interview mit Walter Capezzali. Aufbau der öffentlichen Gebäude läuft weiter schleppend.

Rottweil/L’Aquila - Walter Capezzali ist Archivar und ehemaliger Leiter der Regionalbibliothek der Abruzzen.

 

Wie waren Sie und Ihre Familie von dem schweren Erdbeben in L’Aquila betroffen? Haben Sie persönlich Schaden genommen in dieser Erdbebennacht und wo sind sie unmittelbar danach untergekommen? Wann sind Sie nach den Notunterkünften in andere Wohnungen gekommen?

Nach der Serie heftiger Erschütterungen vor dem zerstörerischen Ereignis hatten meine Frau und ich den antiken Palazzo aus dem 16. Jhd. verlassen und waren zu meiner Tochter gezogen, welche im Erdgeschoss eines neu erbauten Wohnhauses mit einem bequemen Parkplatz wohnte. Während des zerstörerischen Erdstoßes sind wir mit der Familie meiner Tochter ins Freie gegangen und haben die Nacht in unseren Autos verbracht.

Der Wiederaufbau in L’Aquila, Onna, Paganica und anderen Paese hat sehr lange auf sich warten lassen. Wo sind Sie und Ihre Familien seither untergebracht? Wenn Sie zurückdenken, wie haben Sie die Zeit nach dem Erdbeben bis zum heutigen Tag erlebt? Was hat Ihnen Kraft gegeben, weder die Hoffnung noch den Mut zu verlieren und dabei den schleppenden Wiederaufbau in der Stadt L’Aquila ständig vor Augen zu haben?

Am nächsten Morgen versammelten wir uns bei meinen Schwiegereltern und wurden herzlich in der Stadt Sora in der benachbarten Region Lazio im Hause der Gegenschwiegereltern aufgenommen. Wir waren neun, von meinem 92-jährigen Schwiegervater bis zu meinem jüngsten Neffen von drei Jahren. Nach fast einem Monat zogen wir zusammen mit anderen Familien unserer Verwandten an die Adria um, wo diese drei Wohnungen besaßen. Wir mieteten zusätzlich zwei weitere: Insgesamt waren wir 15 Personen. Anfang November im gleichen Jahr kehrten wir alle nach L’Aquila zurück und mieteten als benutzbar erklärte Wohnungen in modernen Wohnhäusern am Stadtrand.

Am ersten Mai 2017 konnten meine Frau und ich wieder in unseren Palazzo zurückkehren, welcher komplett erdbebensicher restauriert worden war. Wir leben da, auch wenn wir mit einigen Problemen konfrontiert werden, da wir immer noch in der "zona rossa" (rote Zone, eigentlich nicht betretbar) sind und sich ringsherum viele Baustellen des Wiederaufbaus befinden.

Während des Wiederaufbaus haben viele Bürger selbst zur Schaufel gegriffen, zuerst Steine und Schutt weggeräumt, dann Zeichen des Protestes in vielen Aktionen gesetzt und von Anfang an haben Kunstaktionen das kulturelle Leben in den Ruinen der zerstörten Stadt aufrecht erhalten und fortgeführt. Wie sehen Sie heute die Zukunft für die Stadt und ihre Bewohner und für Sie ganz persönlich? Überwiegt eher Ohnmacht oder Zuversicht? Wie müsste sich die Stadt entwickeln, wenn nicht nur saniert und wiederaufgebaut, sondern auch ein gerechtes, soziales Miteinander der Bürger entwickelt werden soll?

Es fällt mir nicht leicht, mit wenigen Worten zu antworten. Ich würde die Antwort jedoch in zwei Teile teilen:

Erstens: Der materielle Wiederaufbau hat sich in diesen zehn Jahren stark beschleunigt. Dies durch die Wiederinstandsetzung der meisten Zivilbauten, vor allem der monumentalen Palazzi des großen historischen Zentrums, die heute zum großen Teil ihren Glanz wieder erlangt haben. Andererseits ist der Wiederaufbau der öffentlichen Gebäude (Schulen, Verwaltungsgebäude und Kirchen) wegen der unvermeidbaren Langsamkeit der Bürokratie und der komplizierten Ausschreibungsverfahren schleppend.

Während beinahe der gesamte Stadtrand wieder bewohnbar ist, sind es im Bereich des historischen Zentrums vor allem die kleinen Gebäude und das Netz von Gassen der sogenannten Sozialwohnungen, welche zum Teil noch darauf warten. Es muss angemerkt werden, dass es bei den zahlreichen kleineren Zentren, welche das Gebiet der Gemeinde von L’Aquila ausmachen, noch schlimmer ausschaut.

Zweitens: Auf der einen Seite sieht man die allmähliche Rückkehr der Einwohner und eine Wiederaufnahme des Handels im historischen Zentrum, während auf der anderen Seite die Wiedereröffnungen der Behörden und öffentlichen Institutionen geringer ist. Aber es ist ebenso offensichtlich, dass viele wieder bewohnbar gemachte Gebäude aus verschiedenen Gründen kaum bezogen worden sind: Zweitwohnungen, noch nicht einladende Gebiete und so weiter. Leider kommt zu all dem die Wirkung einer unglaublichen Maßnahme, welche es vielen Einwohnern ermöglichte auf einen vollständigen oder zumindest überwiegenden Wiederaufbau ihrer Häuser zu verzichten, da sie einen Gegenwert an Geld zur Verfügung erhalten haben, der nicht unbedingt in der gleichen Stadt noch nicht einmal in der gleichen Region eingesetzt werden muss. Einige hundert Familien hatten so die Möglichkeit, an andere Orte umzuziehen, sei es in benachbarte Provinzen in den Abruzzen, sei es weit weg, wie zum Beispiel. nach Mailand oder dergleichen.

Was die sozusagen moralische Wiedergeburt betrifft, gibt es tatsächlich noch viele "wahre" Aquilani. Soziale und kulturelle Aktivitäten sind seit langer Zeit wieder in vollem Gange. Es besteht der Wunsch nach Teilnahme und Teilhabe "an der Stadt": Universitäten, Konzerte, Tagungen, öffentlich verfügbare Räumlichkeiten, erhöhen die Möglichkeiten für Begegnungen, die eine gute Hoffnung für die Zukunft geben.