Die Zahl der Muslime, die täglich betet, nimmt laut Religionswissenschaftler Michael Blume ab. Das Foto zeigt die Imam Ali Moschee in Hamburg. Symbol-Foto: Marks Foto: Schwarzwälder Bote

Interview: Ein Religionswissenschaftler erklärt, was die Energiewende mit der Krise des Islam zu tun hat

Empfingen. Der Religionswissenschaftler und Buchautor Michael Blume ist am Montag, 18. März, zu einem Vortrag über den Islam zu Gast in Empfingen. In einem Interview mit unserer Zeitung erklärt er, wie es zur aktuellen Krise des Islam gekommen ist und welche persönlichen Konsequenzen er aus einem Besuch im Irak gezogen hat.

In Empfingen, wo Sie den Vortrag halten, ist ein Großteil der Bevölkerung katholisch. Warum dürfte diese Menschen eine Krise des Islam interessieren?

Gerade auch katholische Christen nehmen sehr stark die Krise der eigenen Kirche und die Säkularisierung wahr. Und da liegt die Frage natürlich nahe: Betrifft dies nur uns? Oder gibt es auch unter Musliminnen und Muslimen angesichts des Missbrauchs ihrer Religion Glaubenszweifel? Wer selbst Freunde muslimischer Herkunft hat, nimmt dabei längst wahr, dass nur noch eine schrumpfende Minderheit täglich betet, fastet, Alkohol meidet oder Mitgliedsbeiträge für einen religiösen Verband entrichtet. Auch die Geburtenraten unter Muslimen brechen weltweit ein und sind selbst in der Türkei und im Iran schon unter 2,1 Geburten pro Frau gefallen. Aber in den Medien erscheinen Muslime noch immer meist als geschlossene, bedrohliche Gruppe. Kluge Empfinger fragen, wie das zusammenpasst.

Worin besteht kurz zusammengefasst die Krise des Islam?

Von 1485 bis ins 18. Jahrhundert wurde in der islamischen Welt der Buchdruck arabischer Lettern verboten. Das hielt die islamische Zivilisation zwar stabil, bremste aber ihre Entwicklung. Heute befinden sich die einstigen Stätten wegweisender Kultur, Bibliotheken und Universitäten zerrissen zwischen Mittelalter und Moderne. Ein großer und schnell wachsender Teil der Menschen aus muslimischen Familien zieht sich leise aus der Religion zurück, betet immer weniger oder gar nicht mehr. Ein kleinerer, aber sehr lauter Teil deutet dagegen die Gewalt und Fehlschläge als Folge einer jüdisch-westlichen Verschwörung und radikalisiert sich antisemitisch weiter. So schlossen sich Zehntausende Musliminnen und Muslime dem selbst ernannten "Islamischen Staat" an, aber sogar Millionen ergriffen vor ihm die Flucht. Was dem Islam derzeit fehlt, ist die vernünftige Mitte, die Glauben, Bildung und Demokratie miteinander verbindet, die für Freiheit, Rechtsstaat und Wohlstand jenseits von Öl einsteht.

Welche Auswirkungen der Krise bekommen wir in unserem unmittelbaren Umfeld zu spüren?

Ganz konkret können sich die schwächelnden Moscheevereine keine Gehälter von Imamen aus Deutschland leisten. Die Spenden reichen noch für den Bau, aber nicht für gebildetes Personal oder eine ordentliche Jugendarbeit. Wir bilden also an unseren Universitäten inzwischen sehr kluge, islamische Theologinnen und Theologen aus, doch diese finden dann in islamischen Verbänden keine Anstellung. Stattdessen werden Imame zum Beispiel aus der Türkei eingeflogen, wo der Staat den Großteil ihrer Gehälter bezahlt. Der Integration schadet dies natürlich und in diese Lücke stoßen dann salafistische, deutschsprachige Prediger wie Pierre Vogel. Man stelle sich einmal den Zustand unserer Kirchen und ihrer Jugendarbeit vor, wenn die meisten Vernünftigen austreten würden.

Wie können wir in dieser Krise helfen?

Zum einen durch Bildung, auch über die christliche Religion und Kultur. Während viele Kinder in den meist sehr guten Religionsunterricht an den Schulen gehen können, haben ausgerechnet Kinder aus muslimischen, jesidischen oder nichtreligiösen Familien bis zur siebten Klasse meistens Hohlstunde. Ich wünsche mir daher dringend Ethik ab Klasse Eins, so dass alle Kinder schon in der Grundschule in deutscher Sprache ein ordentliches Grundwissen über Toleranz, Humanismus, Religionen und Kulturen erhalten. Entscheidend ist zudem die Energiewende. Denn derzeit finanzieren wir selbst durch Öl- und Gasimporte die Diktaturen, Korruption und extremistischen Gruppen von Saudi-Arabien über Russland bis nach Algerien und Venezuela. Und liefern dann auch noch Waffen. Deswegen habe ich mir nach Erfahrungen im Irak ein Elektroauto angeschafft. Es ist schon mehr als genug Blut für Öl geflossen.

Noch etwas zu Ihnen: Wie kann man sich Ihre alltägliche Arbeit im Staatsministerium vorstellen?

Nach Empfingen komme ich als Religionswissenschaftler und Buchautor. Beruflich leite ich ein Referat in der Grundsatzabteilung des Staatsministeriums, bereite mit meinem Team Informationen, Besuche, Veranstaltungen, Reden und Projekte für den Ministerpräsidenten sowie weitere Mitglieder der Landesregierung vor. 2015 leitete ich das Sonderkontingent des Landes, mit dem wir mehr als 1000 jesidische Frauen und Kinder aus dem Irak evakuierten, darunter die heutige Nobelpreisträgerin Nadia Murad. Im März 2018 wurde ich dann auf Vorschlag der jüdischen Gemeinden von Regierung und Landtag zum Beauftragten gegen Antisemitismus ernannt.

Womit beschäftigen Sie sich derzeit als Antisemitismusbeauftragter?

Ich bin im ganzen Land unterwegs, höre zu, trage und lese vor. Der Landtag hat sich zudem für den Sommer den ersten Landes-Antisemitismusbericht mit konkreten Handlungsvorschlägen gewünscht. Wie groß das ist, können Sie schon daran erkennen, dass wir im Ländle mehr als 110 000 Lehrerinnen und Lehrer haben, die sich dringend Fortbildungen und neues Lehrmaterial wünschen. Hinzu kommen Polizistinnen, Stadtbeamte, Richterinnen, Pfarrer, Gedenkstätten, jüdische Gemeinden. Unterstützt durch mein Team und einen Expertenrat versuchen wir, einen Riesentanker auf hoher See flottzumachen. Es ist hart, aber Baden-Württemberg ist ein engagiertes Land. Und wo uns Gutes gelingt, sind wir auch ein Beispiel für andere deutsche und europäische Länder. Gerade war das französische Fernsehen da. Die Fragen stellte Daniel Begemann.

Der Vortrag "Islam in der Krise – eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und Rückzug" findet am Montag, 18. März, um 20 Uhr im katholischen Gemeindehaus in Empfingen statt. Veranstalter sind das katholische Bildungswerk und die Frauenarbeit im evangelischen Kirchenbezirk Sulz. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Der Kostenbeitrag beträgt 5 Euro.