Johannes Stocker berichtet im Empfinger Gemeindehaus von dem Tag des Amoklaufs in Winnenden, an dem er selbst als Leiter des Rettungsdiensts im Einsatz war. Foto: Engelhardt Foto: Schwarzwälder Bote

Vortrag: DRK-Kreisgeschäftsführer Johannes Stocker spricht über den Amoklauf in Winnenden

Der 11. März 2009 hat das Leben vieler Menschen verändert. Beim Amoklauf in Winnenden gab es 16 Tote. Ein Albtraum für die Familien der Opfer, aber auch für die vielen Helfer. Johannes Stocker hat im Empfinger Gemeindehaus davon erzählt.

Empfingen. Die zarten Strahlen der morgendlichen Herbstsonne tauchen den Vortragsraum des evangelischen Gemeindehauses in Empfingen in ein weiches Licht. Der Duft von Kaffee und frischen Brezeln hängt in der Luft. Leicht verdauliche Lyrik hätte dazu bestens ins Bild gepasst. Doch harter Tobak ist angesagt. Die Besucher schauen an die Wand. Dort sind verschiedene Folien zu sehen, die Johannes Stocker mit Hilfe eines kleinen Beamers für alle sichtbar macht. Das Thema: der Amoklauf von Winnenden.

Gebannt lauschen die Gäste an diesem Dienstagmorgen den Ausführungen des Referenten. Eine Frau legt ihre Hand unwillkürlich vor den Mund. Dann macht sie einen tiefen Seufzer. "Um Gottes Willen", murmelt sie vor sich hin. Das, was Stocker serviert, ist alles andere als leichte Kost. Vielleicht auch ein Grund dafür, wieso sich dieses Mal nicht so viele Menschen eingefunden haben wie erwartet, meint Anke Reich.

Die Kirchengemeinderätin hat vor zehn Jahren das Empfinger Frühstück ins Leben gerufen. Seither hält die Veranstaltungsreihe Vorträge zu den verschiedensten Themen bereit. Alles, was das Leben der Christen betrifft und berührt, sagt sie. Alltägliches, Banales, aber auch Nachdenkliches. Bis zu 50 Gäste kann Reich pro Veranstaltung begrüßen. Und egal, um was es sich in den Vorträgen dreht, am Ende gibt es immer ein gemeinsames Lied aus dem evangelischen Gesangbuch: Geh unter der Gnade.

Doch davon sind die Besucher zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt. Interessiert verfolgen sie den Ausführungen jenes Mannes, der vor zehn Jahren als Leiter des Rettungsdienstes im Rems-Murr-Kreis hautnah die Geschehnisse verfolgte, zusammen mit seinen Mitarbeitern im Einsatz war.

"Als der erste Notruf bei uns kurz nach 9.30 Uhr einging, dachten wir: Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein", sagt Johannes Stocker. Dass es sich aber nicht um einen Dummejungenstreich gehandelt habe, sei ihnen schnell bewusst geworden. "Wir bekamen zwei Anrufe aus den Klassenzimmern der Albertville-Realschule, dass geschossen würde." Die Situation für Polizei und Rettungskräfte sei am Anfang natürlich undurchsichtig gewesen, trotzdem hätten sich die ersten Fahrzeuge sofort auf den Weg gemacht.

"Wir haben natürlich für verschiedene Szenarien klare Einsatzstrukturen gehabt, so auch für Schießereien", erklärt Stocker. "Für einen solchen Amoklauf gab es das allerdings noch nicht." Verhältnisse wie in den USA schienen in Deutschland undenkbar. In den beiden Jahren zuvor hatten die DRK-Mitarbeiter allerdings an Interventionstrainings teilgenommen. "Das hat uns in dieser Situation sehr geholfen", meint der DRK-Kreisgeschäftsführer. Detailliert erklärt er den Gästen des Empfinger Frühstücks in den nächsten Minuten den Tatort, den Tathergang und die Probleme, mit denen die verschiedenen Hilfs- und Einsatzkräfte zu kämpfen hatten. Danach erläutert er den Zuhörern den gesamten Einsatzablauf des Rettungsdienstes vom ersten Notruf bis zum Einsatzende – immer visuell unterstützt und mit Originalaussagen von Mitarbeitern angereichert. Der Tatablauf mit den jeweils getroffenen Maßnahmen von Polizei und Rettungsdienst sowie die daraus entstandenen Risiken können dadurch detailliert nachvollzogen werden.

"Der Einsatz damals war für alle Beteiligten sehr belastend", blickt Stocker zurück. Man habe daraus aber auch sehr viel gelernt, die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten analysiert und verbessert. "Eine ganze Reihe an Projekten und Konzepten sind aus den Erfahrungen, die wir in Winnenden gemacht haben, entstanden", erklärt Stocker. Viele dieser Projekte und Konzepte würden mittlerweile bundesweit, manche sogar auf europäischer Ebene angewendet.

So entstand beispielsweise eine Team-Check-Karte, die das genaue Vorgehen in lebensbedrohlichen Einsatzlagen und Sonderlagen der Polizei regelt und heutzutage in jedem Fahrzeug der Rettungskräfte und Polizei zu finden ist. "Das bessere Verständnis, wie die anderen an solchen Einsätzen beteiligten Organisationen agieren, ist äußerst wertvoll."

Zudem wurden Konzepte für das Einsatztraining "Zusammenarbeit von Polizei und Rettungsdienst bei Sonderlagen", "EOS – Einheitliches Orientierungssystem Schule", "Betreuung Angehöriger" und "Netz der Hilfe für Einsatzkräfte" entwickelt. Diese sind heute fester Bestandteil der Ausbildung bei Rettungsdiensten und der Polizei. Außerdem gebe es eine ganze Reihe von Vorträgen und Schulungen für diese Protagonisten.

"Keiner geht von uns ins Geschäft und freut sich, dass was passiert", betont der DRK-Kreisgeschäftsführer. "Im Gegenteil, jeder ist froh, wenn nichts Großes ist." Doch manchmal ließe sich so etwas nicht verhindern. "Mir läuft es heute noch kalt den Rücken hinunter, wenn ich die Gespräche, die zur Protokollierung immer aufgenommen werden, höre." Daher sei es wichtig, gut gerüstet zu sein.