Ein Traumpaar: Emma Thompson und Daryl McCormack in „Meine Stunden mit Leo“ Foto: picture alliance/dpa/Wild Bunch Germany

Eine einsame Witwe, die noch nie einen Orgasmus hatte, bestellt sich einen Callboy. Emma Thompson spielt die Rolle ihres Lebens im Kino- Kammerspiel „Meine Stunden mit Leo“, das jetzt startet.

Es ist mit Händen zu greifen, wie viel Überwindung es die pensionierte Lehrerin Nancy Stokes gekostet haben muss, den Sexarbeiter Leo Grande zu engagieren. Sie fühlt sich sichtlich unwohl in dem hübschen Hotelzimmer, das sie gebucht hat. Sie weiß nicht wohin mit sich, ihren Händen und ihren Blicken, während sie mit ihm über die große Hoffnung redet, die sie mit seinem Engagement verbindet: vielleicht doch noch sexuelle Erfüllung zu erfahren.

 

Natürlich verantworten Frauen dieses Projekt, die hierzulande weitgehend unbekannte australische Regisseurin Sophie Hyde, die in ihrer britischen Heimat populäre Comedienne Katy Brand, die das Drehbuch geschrieben hat – und als Hauptdarstellerin die Britin Emma Thompson (63). Nancy ist eine Paraderolle für diese Charakterdarstellerin und Expertin für subtile Gefühle – besonders für solche, die unterdrückt werden.

Thompson hat zwei Oscars

In James Ivorys Drama „Howard’s End“ (1992) verkörperte Thompson eine aufgeklärte Frau im Sog konservativer Kräfte im England des frühen 20. Jahrhunderts und bekam dafür den Hauptrollen-Oscar; bald kam einer dazu als Autorin für das beste adaptierte Drehbuch der Jane Austen-Verfilmung „Sinn und Sinnlichkeit“ (1995). Darin spielte sie mit Kate Winslet ein Schwesternpaar in Not im Jahr 1800.

Thompson war auch in Ivorys Film „Was vom Tage übrigblieb“ (1995) zu sehen, den sie einmal als „Meisterwerk der zurückgehaltenen Emotionen“ bezeichnet hat: Sie spielte darin eine ehemalige Bedienstete, die mit dem Butler im selben Herrschaftshaus (Anthony Hopkins) eine jahrzehntelang unerfüllte Liebe verbindet – weil beide unfähig waren und sind, ihre Gefühle preiszugeben.

Thompson ist brillant als ungelenke Nancy

Die ausgeprägte „Britishness“ all dieser Stoffe ist auch Thompson selbst zu eigen – wer kann, sollte unbedingt die Originalfassung anschauen. Virtuos buchstabiert sie Nancys unverschuldete Verklemmtheit aus. Wenn diese versucht, Wünsche auszudrücken, wirken ihre Worte und Gesten immer besonders umständlich und ungelenk. Zudem schlägt sie einerseits gern den bevormundenden Ton einer Lehrerin an, entschuldigt sich aber andererseits ständig.

Der Herr des Verfahrens ist also zunächst der sanfte Leo Grande, ein schmucker junger Mann mit Manieren. Sehr sensibel reagiert er auf Nancys Irritationen und tut alles, ihr die Ängste zu nehmen. Er hat ja Übung mit reiferen Damen. Makellos verkörpert diesen perfekten Gentleman der irische Schauspieler Daryl McCormack, bekannt aus den Serien „Peaky Blinders“ und „Das Rad der Zeit“. In seinem Auftreten schwingt von Anfang an mit, dass Leo durchaus eitel ist und über seine Wirkung weiß, dass er aber auch ein gutes Herz hat – und eine Vergangenheit.

Nancy lockt Leo aus der Reserve

Bald lernt Nancy, dass sie ihre Bedürfnisse klar formulieren und ihren eigenen Körper kennen muss, ehe sie mit anderen intim wird. Bringt sie am Anfang das Wort „Oralsex“ kaum über die Lippen, redet sie bei einem späteren Treffen schon ganz selbstverständlich vom „Blowjob“, den sie nun endlich „hinter sich bringen“ möchte. Mit zunehmender Vertrautheit versucht sie, Leo aus der Reserve zu locken, was ihr irgendwann gelingt – doch er erweist sich als dünnhäutig, was sein Privatleben angeht.

Das Kammerspiel ist stringent inszeniert, jeder Dialogsatz sitzt, das Timing stimmt. Die Charaktere und ihre Beziehung zueinander entwickeln sich organisch bis in die kleinsten Nuancen. Hyde und der Kameramann Bryan Mason schöpfen die Möglichkeiten des Hotelzimmers voll aus und folgen den Figuren aufs Bett, zur Minibar, aufs Sofa, auf den Boden vor dem Bett. Voyeuristisch werden sie dabei nicht, Sexszenen deuten sie überwiegend nur an und überlassen den Rest der Vorstellungskraft der Zuschauerinnen und Zuschauer.

Eine mutige Botschaft

Und dann ist da noch die Szene, die bei der diesjährigen Berlinale für Gesprächsstoff sorgte: Nancy betrachtet sich nackt im Spiegel und hat gelernt, sich und ihren Körper anzunehmen. Die mutige Emma Thompson schickt damit eine Botschaft in die Welt: Seid glücklich mit euch selbst – so, wie ihr seid!

Meine Stunden mit Leo. GB 2022. Regie: Sophie Hyde. Mit Emma Thompson, Daryl McCormack. 97 Minuten. Ab 12 Jahren.