Die Veröffentlichung des Beatles-Hits „Hey Jude“ ist fast so lange her wie Englands einziger Titel bei einer WM oder EM. Nun soll endlich wieder ein Pokal her – mit einem Beatles-Fan als Hauptfigur.
Natürlich waren sie wieder da. Zu Tausenden, zu Zehntausenden – wie immer, wenn ihr Nationalteam irgendwo auf der Welt um einen großen Titel kämpft. Und natürlich präsentierten sich die englischen Fans auch in und rund um die Arena Auf Schalke so, wie man sie kennt: laut, trinkfest, sangesfreudig.
Nicht fehlen durfte der Beatles-Klassiker „Hey Jude“, zu Ehren des besten Mannes auf dem Platz, der den Engländern einen 1:0-Auftakterfolg gegen Serbien beschert hatte: Jude Bellingham. Hinterher wurde dieser aus gegebenem Anlass gefragt, ob er mit der Musik der Band überhaupt etwas anfangen könne oder nicht doch zu jung dafür sei. „Ich mag die Beatles, ich höre sie oft“, versicherte Bellingham und schickte erklärend hinterher: Der Musikstil, der ihm zusage, sei „ein bisschen alt“.
Feste Größe bei Real Madrid und im Nationalteam
Die Anekdote passt zu dem Burschen, von dem viele nicht glauben können, dass er gerade einmal 20 ist. Als Bellingham noch bei Borussia Dortmund spielte und – noch nicht einmal volljährig – in der Champions League Manchester City ärgerte, nannte ihn deren damaliger Trainer Pep Guardiola scherzhaft „einen Lügner“. Guardiola konnte einfach nicht glauben, was er gesehen hatte: einen hochbegabten Teenie, der auftrat wie ein alter Hase. Unmöglich könne dieser Ausnahmespieler erst 17 sein.
Gut drei Jahre später hat Bellingham die nächsten Stufen auf der Karriereleiter erklommen – und ist seiner Zeit noch immer voraus. Bei Real Madrid nahm er in seiner ersten Saison bereits eine wichtige Rolle ein und war mit 19 Toren in der Liga und vier Treffern in der Champions League an beiden Titelgewinnen maßgeblich beteiligt. Und in Englands Nationalteam ist er längst eine feste Größe. Dies unterstreicht der Umstand, dass Bellingham seit Sonntag der erste europäische Spieler ist, der vor seinem 21. Geburtstag bei drei großen Turnieren zum Einsatz kam.
Auch gegen Serbien war er nicht nur der Mann für die besonderen Momente, sondern auch ansonsten Dreh- und Angelpunkt im englischen Spiel. Gegen Serbien hatte er fast 100 Ballkontakte und spielte 70 Pässe, von denen 96 Prozent ankamen. Was sich nur unzureichend in Zahlen ausdrücken lässt, sind die Raffinesse und Handlungsschnelligkeit, mit der Bellingham seine Aktionen ausführt.
„Er hat die Antizipation, um zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein“, schwärmte sein Teamkollege Jarrod Bowen, „er war wieder einmal der Unterschiedsspieler.“ Das einzige Tor des Abends in der 13. Minute hatte Bellingham im Mittelfeld selbst eingeleitet, war danach in den Strafraum aufgerückt, wo er die Flanke von Bukayo Saka mit viel Wucht per Kopf über die Linie drückte. Dass Bellingham später zum „Man of the match“ gewählt wurde, war reine Formsache.
Der geborene Führungsspieler
Selbst seine Gegenspieler verneigten sich vor dem Ausnahmespieler. „Alles, was er getan hat, war großartig. Er hat Persönlichkeit gezeigt und England auf das nächste Level gehievt“, sagte Serbiens Offensivmann Dusan Tadic, der die Lobeshymne mit den Worten schloss: „Das Wichtigste für solch einen jungen Spieler ist, dass er immer Verantwortung übernimmt. Das ist erstaunlich.“ Dass sich die hoch gehandelten Engländer ansonsten über weite Strecken schwertaten und in der zweiten Halbzeit beinahe noch für ihre Passivität bestraft wurden, rückte angesichts der Bellingham-Show in den Hintergrund.
Dessen Kollegen wissen, was sie an dem längst erwachsen gewordenen Wunderkind haben. In den weiteren Gruppenspielen gegen Dänemark am Donnerstag (18 Uhr/ZDF) in Frankfurt und gegen Slowenien am kommenden Dienstag (21 Uhr) in Köln soll Bellingham erneut vorangehen. „Man muss nicht so alt sein wie ich, um ein Führungsspieler zu sein. Man kann das auch mit 18, 19, 20 sein. Jude ist so jung, aber er führt und er ist laut auf dem Platz“, sagte sein 33-jähriger Mitspieler Kieran Trippier.
Und Bellingham selbst? Der tritt auch neben dem Platz so abgeklärt auf, als habe er schon so viel erlebt wie ein Trippier, ein Harry Kane oder ein Kyle Walker. „Ich nehme jedes Spiel für sich und schaue nicht zu weit in die Zukunft“, erklärte er etwa nach dem Serbien-Spiel. Und: Er fühle sich wie jemand, der Spiele entscheiden kann. „Wenn ich rausgehe und spiele, dann fühlt sich das nicht so sehr wie ein Job an, sondern wie ein Vergnügen.“ Bellinghams Gegenspieler dürften dagegen weiter nur wenig Grund zum Lachen haben.