Stuttgart - Irene will nicht essen. Wenn Eva ihr den Löffel vor den Mund hält, presst sie die Lippen aufeinander und dreht den Kopf weg. Hat sie wirklich keinen Hunger, oder schmeckt ihr das Gemüse nicht? Eva legt eine Pause ein und kontrolliert, ob die Windel gewechselt werden muss. Dann startet sie einen weiteren Anlauf. Nun schmeckt Irene das Püree.

Irene ist Evas Mutter und 95 Jahre alt. Seit sechs Monaten kann sie nicht mehr gehen. Sie schafft es auch nicht, selbstständig den Rollstuhl zu bewegen. Seit zehn Monaten spricht die alte Frau nicht mehr. Schon sechs Jahre lang muss sie abends ein Medikament gegen die fortschreitende Demenz einnehmen. Anfänglich hatte sie sich geweigert. Doch die Tochter insistierte. Also hat sie sich gefügt, wie sie sich die Jahre zuvor klaglos zur Toilette führen, an- und ausziehen, duschen und eincremen ließ. Und wie sie es seit Jahren zulässt, dass die Tochter ihre Mahlzeiten für sie zubereitet, für sie einkauft, Arztbesuche vereinbart, die Pediküre und den Friseur organisiert, ihre Kleider und Wäsche wäscht und die kleine Wohnung putzt. Ohne Hilfe wäre Irene wohl verwahrlost und verhungert.

Vor fünf Jahren noch war alles anders

Eva war 52, als sie rund um die Uhr die Mutter ihrer Mutter wurde. Es schien, als wäre Irene im Alter die Figur eines Brettspiels, die kurz vor dem Ziel auf die Position einer Zweijährigen zurückrücken muss, und deren körperliche und geistige Fertigkeiten allmählich nachlassen, bis sie fast auf dem Stand jenes Babys scheint, das 1916 in Gießen zur Welt gekommen ist. Entsprechend wuchsen mit jedem Monat, an dem die Mutter an körperlichen und geistigen Funktionen verlor, der Betreuungsaufwand und Evas Fürsorge.

Eva hat sich schon als junge Frau mit dem Verhältnis zu Irene auseinandergesetzt. „Das Kind Eva ist erwachsen und muss nicht mehr aufrechnen, was mit der Mutter schief gelaufen ist oder nicht“, sagt sie. „Ich kann mich auf sie – die heute eine ganz andere ist als früher – ohne Wenn und Aber einstellen.“

Irene ist kein Einzelfall

Täglich muss Eva konkrete Entscheidungen für sie treffen: Einen Rollstuhl organisieren, eine Krankengymnastin, die die Muskeln kräftigen hilft, Bankgeschäfte tätigen, einen Speiseplan zusammenstellen, der die Kau- und Schluckbeschwerden der Mutter berücksichtigt und abwechslungsreich ist. „Demenz im fortgeschrittenen Stadium macht Menschen unmündiger und abhängiger“, weiß Sylvia Kern, Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg. „Spätestens, wenn sie sich selbst oder andere gefährden, muss das betreuende Kind mit fürsorglicher Autorität sagen, wo es langgeht.“

Irene ist kein Einzelfall. Etwa zwei Drittel der rund 140.000 dementen Baden-Württemberger werden zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt, meist von Töchtern oder Schwiegertöchtern. Die persönliche Betreuung und Versorgung verlangt den Angehörigen rund um die Uhr ein Maximum an Kraft und Nerveneinsatz ab.

Nie tüttelig wie mit einem Säugling sprechen

Irene ist bereits zu schwach, als dass ein Risiko von ihr ausgehen könnte. Eva spricht mit ihrer Mutter wie Jahre zuvor mit ihren kleinen Söhnen: Aufmunternd, wenn der Körper nicht gehorchen will, fordernd, wenn sie das Trinken verweigert, verständnisvoll, wenn sie eine frische Windel benötigt. Aber nie tüttelig wie mit einem Säugling.

Die Betreuung ist für sie kein Rollentausch. „Die Pflege eines Elternteils ist aus meiner Sicht eine unter vielen anderen Lebensphasen, die vor allem ein Akzeptieren und Respektieren der Person im jeweiligen Zustand bedeutet“, sagt sie.

„Das Konzept Kind beinhaltet häufig einen etwas harschen Umgang miteinander, mit Befehlsformen wie ‚Mund auf!‘“, beobachtet hingegen die Stuttgarter Psychologin und Familientherapeutin Silvia Grabowski-Pamlitschka. „Dabei ist die Mutter eine erwachsene Person. Ihr gebührt jene Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, die man guten Freunden und Fremden zukommen lässt.“ „Die Mutter wird nie wie das eigene Kind sein“, bestätigt Hartwig von Kutzschenbach, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes für Alte Menschen (SOFA) beim Landkreis Esslingen. „Sie ist auch noch die Mutter, wenn sie das betreuende Kind nicht mehr als ihres erkennt.“

Betreuung klappt nur, wenn keine Konflikte mehr in der Beziehung schwelen

Der Umgang mit Älteren ist so unterschiedlich wie die Verhältnisse in den Familien. Er hängt unter anderem ab vom Alter, ab dem Ältere Hilfe benötigen. Auch ob sie in der Nähe der Kinder leben und wie diese beruflich und sozial eingebunden sind, spielt eine Rolle. Nicht immer steckt Selbstlosigkeit hinter der Hilfe. Manche kümmern sich um die betagten Eltern, weil das Geld nicht reicht für eine professionelle Hilfe. Anderen kommt die Pflege im häuslichen Umfeld gelegen, weil sie keine Lust mehr auf ihren angestammten Job haben. Eine wichtige Rolle spielt stets, wie die betagten Menschen selbst früher mit ihrem Nachwuchs umgegangen sind.

Fachleute jedenfalls sind sich einig, dass die Betreuung nur klappt, wenn keine Konflikte mehr in der Beziehung schwelen. „Kinder übernehmen nach und nach jene Verantwortung für die Eltern, die diese in früheren Jahren für sie selbst hatten“, erklärt der heilkundliche Psychotherapeut und Theologe Joachim Trautwein aus Kusterdingen. „Das bedeutet einen Rollenwechsel, der radikaler nicht sein kann.“ Damit diese totale Veränderung der Beziehungsstruktur gelingt, sei es notwendig, die alten Rollen und Strukturen befriedigend abzuschließen. Das wiederum erfordere ein Bewusstwerden und ehrliches Eingestehen der Gefühle.

So müssen die Kinder einsehen, dass sie ihren Eltern ihr Leben verdanken, verdeutlicht Trautwein: „Nur aus dieser Dankbarkeit heraus können sie – bei aller Wahrnehmung der Probleme, die ihre Eltern mit sich selbst und den Kindern haben und hatten –, frühere Enttäuschungen erkennen, diese aber dann nicht weiter konservieren.“ Auf Seiten der Eltern wiederum sei die Einsicht notwendig, dass sie ihren Wunsch nach Dankbarkeit („Ich habe alles für dich getan“) beim Kind nicht einfordern können. „Alte quälende Hoffnungen können nicht auf beiden Seiten die Situation bestimmen“, sagt Trautwein.

Vor der Pflegesituation belastende Erfahrungen ansprechen

Wie ist so etwas möglich, zumal in einer Generation, die einen Krieg erlebt hat und Gefühle den materiellen Bedürfnissen nachordnen musste? Trautwein rät, möglichst vor der Pflegesituation belastende Erfahrungen anzusprechen, alte Rechnungen und unerfüllte Hoffnungen zu benennen. „In der Regel erleben Kinder und Eltern dann, dass die Beziehungen tiefer, offener und ehrlicher werden“, weiß er. „Ebenso verwandeln sich gegenseitige Vorwürfe tendenziell in eine stille, ehrliche Dankbarkeit, die über den Tod hinaus lebendig bleibt.“

Diese Versöhnung sei für jeden Beteiligten wichtig und könne Einklang mit dem eigenen Leben herstellen. „Dieser Einklang mit sich selbst ist auch deshalb wichtig, damit das frühere Kind in der Betreuungssituation die eigenen Grenzen wahren kann. Andernfalls läuft es Gefahr, dass es – etwa aufgrund alter Verpflichtungen und Schuldgefühle – über die Grenzen der Belastbarkeit geht und immer wieder neue Irritationen riskiert.“

„Das Herz wird nicht dement“

Ein erster Schritt könnte eine Selbsthilfegruppe sein, wie sie beispielsweise SOFA im Landkreis Esslingen anbietet. Die Mitarbeiter helfen Angehörigen, den pflegerischen und sozialen Zustand der Betagten einzuschätzen, sie bieten Einzelberatung an und betreuen Angehörigengruppen. „Wichtig ist es, den pflegenden Töchtern Mut zu machen, damit sie Hilfe holen und reflektieren, was passiert“, rät Hartwig von Kutzschenbach. „Je früher, umso besser.“

Eva hat sich schon als junge Frau mit dem Verhältnis zu Irene auseinandergesetzt. „Das Kind Eva ist erwachsen und muss nicht mehr aufrechnen, was mit der Mutter schief gelaufen ist oder nicht“, sagt sie. „Ich kann mich auf sie – die heute eine ganz andere ist als früher – ohne Wenn und Aber einstellen.“

Seit einigen Wochen lebt Irene in einem Pflegeheim. Die Tochter ist in den Beruf zurückgekehrt. Sie besucht ihre Mutter häufig und freut sich, wenn Irene auf sie reagiert. Manchmal ist sie unsicher, ob ihre Mutter sie erkennt. Emotional, da ist sich Sylvia Kern sicher, wird sie Irene ziemlich sicher erreichen: „Das Herz wird nicht dement.“