Kontrolle an der Grenze zwischen USA und Mexiko. Foto: dpa

Grenzerfahrungen in den USA: Zehntausende Kinder und Mütter aus Zentralamerika flüchten vor der Gewalt in ihrer Heimat Richtung Norden. Im Tal des „Rio Grande“ strömen sie nach Texas. Wie sich Minderjährige aus Zentralamerika in die USA durchschlagen.

Rio Grande Valley - Vorsichtig klettert Juliana kurz vor Sonnenuntergang aus dem Zubringerbus vor dem Übergangslager. In der Hand hält sie einen Umschlag, auf dem in fetten Buchstaben Angaben zu ihrer Reise stehen: 13.30 Uhr, Santa Rosa, Kalifornien. Doch zwei freundliche Frauen haben ihr in der Wartehalle der Greyhound-Fernbusse den Tipp gegeben, die Nacht nicht dort, sondern in der Herz-Jesu-Kirche zu verbringen.

Warum nicht, denkt sich die 26-jährige Mutter aus El Salvador, deren Leben in den vergangenen drei Wochen in der Hand zwielichtiger Schlepper lag. Behutsam setzt Juliana einen Schritt vor den anderen, damit sie die ausgetretenen Sportschuhe nicht verliert. Auch ihre Kinder, die fünfjährige Irena und Jesu, neun Jahre alt, haben keine Schnürsenkel mehr. US-Grenzer haben sie ihnen weggenommen. Die Männer hatten aus einer Böschung beobachtet, wie Vater José erst die Kinder und dann seine Frau durch den Rio Grande brachte, jenen Fluss, den die Latinos wegen seiner gefährlichen Strömungen ehrfürchtig „Rio Bravo“ nennen. Das Boot ihres Schleppers war ausgefallen – und so blieb ihnen keine andere Wahl, als es auf eigene Faust zu versuchen.

„Ich dachte, wir ertrinken“

Juliana, die wie ihre Kinder nicht schwimmen kann, hat Todesangst. „Ich dachte, wir ertrinken.“ Mit einem Arm klammert sie sich an den 27-jährigen José, in der anderen Hand hält sie eine Plastiktüte mit den Kleidungsstücken, die sie vorher ausgezogen hat.

Nun stehen sie am rettenden Ufer. Erschöpft, nass und nackt. Während die sengende Sonne das Wasser auf der Haut verdunsten lässt, kommen bereits die beiden US-Grenzbeamten aus dem Dickicht. Schamhaft versucht die junge Frau, sich zu verhüllen. Viel Zeit lässt man der Familie nicht, ein paar Kleidungsstücke überzustreifen. Schon geht es zur Grenzstation im nahen McAllen, die nur für ein paar Dutzend Einwanderer ausgelegt ist und jetzt aus allen Nähten platzt. Zuletzt stieg die Zahl der Aufgegriffenen im Rio Grande Valley auf täglich 900 – ein hoffnungslos überlasteter Grenzposten, der nicht auf immer mehr Kinder vorbereitet ist, die ganz allein über die Grenze kommen – aus Honduras, Guatemala und El Salvador.

Seit Oktober vergangenen Jahres haben die US-Grenzschützer 57 000 Minderjährige festgenommen, die der Gewalt in ihrer Heimat zu entkommen versuchen. Hinzu kommen Zehntausende Familien, die sich wegen der Sicherheit ihrer Kinder auf den gefährlichen Weg gemacht haben. Wie Juliana und José, die alles zurückließen, nachdem Irena und Jesu von Banditen fast umgebracht worden wären. Vor zwei Jahren hatten die Ganoven erstmals Schutzgeld für Julianas Tante-Emma-Laden gefordert. Monat um Monat verlangen sie mehr. Zuletzt droht die Bande, die Kinder umzubringen. Julianas Eltern geben 5000 Dollar (rund 3700 Euro) für die Flucht – ein Vermögen. Davon bezahlt die Familie neun verschiedene Schlepper, die immer mehr verlangen, je näher sie an den Rio Grande kommen.

Korrupte Sicherheitskräfte

Das Schicksal der Familie ist kein Einzelfall. Die lokale Bürgerrechtsanwältin Jennifer Harbury sagt: „Wir ernten jetzt, was wir gesät haben“, erklärt die 61-Jährige die Explosion von Gewalt ausgerechnet in jenen drei Ländern, in denen der CIA in den 1980er Jahren brutale Regime stützte. Viele der damaligen Akteure stecken heute mit den Banden und den Drogenkartellen unter einer Decke. Polizei und Sicherheitskräfte seien so korrupt, dass sie keinen Schutz bieten, sagt Harbury.

Illegale Einwanderer oder Kinderflüchtlinge? Joe Gutierrez von der Grenzbehörde überlässt diese Einteilung der Politik. Aber er bestätigt, dass sich etwas an der Grenze verändert hat. „Sie stellen sich freiwillig“, sagt der Grenzschützer, der auf seinen Fahrten mit Journalisten täglich auf Frauen und Kinder auf der Flucht trifft. Gutierrez hat eine einfache Erklärung, warum die Menschen ausgerechnet hierher, durch das Rio Grande Valley, kommen. „Das ist der direkte Weg aus Mittelamerika“ – Hunderte Meilen kürzer als nach Kalifornien am anderen Ende der rund 3200 Kilometer langen Grenze zu den USA.

Motiviert werden die Flüchtlinge zudem durch ihre Heimat waberenden Gerüchte, wonach Präsident Barack Obama keine Kinder mehr abschieben lassen will. Doch die Realität ist komplizierter. Kinder aus Drittländern, die nicht an die USA grenzen, haben nach einem 2008 überparteilich beschlossenen Schutzgesetz gegen Menschenhandel lediglich das Recht auf richterliche Anhörung.

Verstärkung der Grenzbehörde

Gutierrez nimmt oft Kongressabgeordnete mit an den Fluss. Er sei froh, wenn Politiker zu verstehen suchten, was hier vor Ort vor sich geht. Der erste Eindruck ist: Die Präsenz der Grenzschützer ist allgegenwärtig. Sie patroullieren in weiß-grünen Geländewagen, auf Dreirädern, zu Pferd und zu Fuß. Sie überwachen das Gelände aus Helikoptern, setzen Drohnen ein und rasen in Schnellboten über den Rio Grande. Nach einer risikoabhängigen Strategie verstärkt die Grenzbehörde ihre Kräfte dort, wo sie gebraucht werden.

„Wir wissen am besten, wie man mit der Situation hier umgeht“, lobt Gutierrez die Einsatzbereitschaft der Grenzer. Klingt da Kritik an dem texanischen Gouverneur Rick Perry an, der 1000 Soldaten der Nationalgarde schicken will? Der „Border-Patrol“-Mann schweigt. Politik fällt nicht in seinen Aufgabenbereich. Aber er kann Abgeordneten erklären, warum sich hier kein Zaun bauen lässt: „Das ist zum großen Teil Natur- und Vogelschutzgebiet.“

Gutierrez steuert seinen Geländewagen zu einer Erhebung, von der sich ein Pfad hinunter an den Rio Grande schlängelt. Links und rechts liegen leere Plastikflaschen, abgetragene Kleidungsstücke, alte Reifen, ein Haufen verblichener Schwimmwesten, daneben Gürtel, Haarbänder, zerschnittene Schnürsenkel. „Damit sie sich nichts antun“, erklärt Gutierrez die Routine bei Festnahmen. Doch aus Julianas Sicht ist das der Beginn einer Serie an Schikanen. Die Behandlung in McAllen sei schlimmer gewesen als alles, was sie unterwegs auf der Flucht erlebt habe. Die „Border Patrol“ habe erst Ehemann José von der Familie getrennt. Dann hätten die Grenzer sie mit 50 anderen Frauen und deren Kindern drei Tage in einen Raum gepfercht – ohne Dusche und mit nur zwei Toiletten.

Grenzstation für die Öffentlichkeit tabu

Nie vergessen werde sie, wie ihr ein Krankenpfleger die Tür vor der Nase zugeschlagen habe, als sie für Jesu um Medizin bat, als der sich ständig übergeben musste. Zudem sei es eiskalt gewesen. Das berichten auch andere, die Zeit in der Grenzstation verbrachten. Als „Eisschrank“ ist die Behausung gefürchtet: ,Die Temperaturen liegen bei knapp über 20 Grad, während es draußen fast doppelt so warm ist. Das sei aus hygienischen Gründen so, sagt die Grenzbehörde.

Angesichts der vielen Beschwerden fordern Kirchenvertreter, Menschenrechtler und Journalisten ungehinderten Zugang zur Grenzstation. Doch der wird nicht gewährt. Die zusätzliche Unterkunft an der West Ursula Avenue, in der ausschließlich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erfasst werden, ist bisher ebenfalls für die Öffentlichkeit tabu. Denn die Grenzbehörde versucht, die Minderjährigen so schnell wie möglich in die Obhut des zuständigen Gesundheitsministeriums zu überstellen.

In 85 Prozent der Fälle können Angehörige in den USA ermittelt werden, an die die Kinder übergeben werden. Alle anderen müssen ins Heim. Juliana und ihre Kinder verbringen drei Tage im „Eisschrank“, bis ihre Identität endlich festgestellt und der Wohnort der Tante in Kalifornien bestätigt ist. Dann erst werden sie von den Grenzern mit Fahrscheinen versorgt und am Busbahnhof von McAllen abgesetzt. Dort trifft Juliana die beiden freundlichen Helferinnen von der katholischen Wohlfahrtspflege, die ihr den Weg zum Durchgangslager weisen. Bei der Ankunft halten Bedienstete die Tür zum umfunktionierten Pfarrsaal der Herz-Jesu-Kirche auf. Beifall brandet auf.

In Texas gibt es ein Übergangslager

Juliana kämpft mit den Tränen. „Dieser Empfang hat mich überwältigt“, sagt sie später. Nach einer Dusche gibt es frische Anziehsachen und etwas zu essen. Ein eigens abgestellter Pate prüft den Reiseplan und geht für seine Schützlinge einkaufen. Dazu gehört die Ausstattung mit Kleidern, die für Alter und Geschlecht getrennt auf Tischen bereitliegen. Sogar für neue Schnürsenkel ist gesorgt. Bei Bedarf können die Flüchtlinge zum Arzt. Alle werden ermutigt, ihre Papiere von Rechtsanwalt Carlos Garcia prüfen zu lassen. „Versäumen Sie nicht den Gerichtstermin“, schärft Garcia den Flüchtlingen ein. „Sie haben sonst keine Chance, zu bleiben.“

Die Einwohner der bettelarmen Grenzregion in Texas breiten die Arme für die Neuankömmlinge aus. Das Übergangslager ist das Ergebnis vorbildlicher Zusammenarbeit verschiedener Religionsgemeinschaften, Hilfswerken, der Stadt McAllen sowie Hunderter Freiwilliger.

Die Reise ins Ungewisse geht weiter

Federführung hat die katholische Schwester Norma Pimentel, die im Juni die Initiative ergriffen hatte. Die 61-Jährige geht zum Eingang eines ehemaligen Lagerhauses, in dem die unbegleiteten Kinderflüchtlinge ihres Schicksals harren. „Das Ganze hier ist nicht auf Minderjährige eingestellt“, beklagt sie – im Gegensatz zum Übergangslager in der Näher der Fernbus-Haltestelle. Dort bringen Vertreter der Hilfsorganisation „Save the Children“ Julianas Kinder in eine Spielecke. „Spielen hilft, mit dem Erlebten fertig zu werden“, sagt Sarita Fritzler, die den Einsatz koordiniert. „Und die Mutter bekommt Gelegenheit, sich von den Strapazen zu erholen.“

Juliana versucht, in einem Zelt auf dem Parkplatz ein paar Stunden zu schlafen. „Ich bin sehr nervös“, gesteht die Frau. Sie hat noch immer keine Ahnung, was aus ihrem Mann Jose geworden ist. Die Behörde sagt, sie reiße Familien nicht absichtlich auseinander. Eine Behauptung, der viele Betroffene widersprechen. Auch Juliana aus El Salvador wird es ohne ihren Mann schwer haben, mit Irena und Jesu ihre Reise ins Ungewisse fortzusetzen.