Maxym Gavrylenko und das blau-gelbe Bike – mit ihm drückt sein Team "American Eagle" seine Solidarität mit der Ukraine aus. Foto: Eyrich

"Physisch bin ich hier", sagt Maxym Gavrylenko, "mit den Gedanken in der Ukraine." Der Mechaniker des "American Eagle"-Teams spricht über den Krieg gegen sein Heimatland, über die Bedeutung des ganz normalen Lebens und die anderen Augen, mit denen er heute die Welt sieht.

Albstadt-Tailfingen - Zwei Wochen lang hat er kaum geschlafen. Seit der Krieg gegen sein Heimatland begann, wacht Maxym Gavrylenko jeden Morgen auf und hat Angst – Angst, seine Eltern anzurufen. Angst, dass sie nicht mehr ans Telefon gehen. Der Mechaniker des Teams American Eagle war in Spanien, als er ausbrach, der Krieg, den er nie für möglich gehalten hatte. Trotz der Gerüchte, die wochenlang kursierten. Für ein "politisches Ränkespiel" hatte er das alles gehalten. Bis am Morgen des 24. Februar seine Eltern und Freunde anriefen, weinend. "Es war ein Schock", sagt Gavrylenko.

"In Gedanken bei der Familie"

Seither sind er und seine Frau, die von Berufs wegen viel mehr Zeit in Europa verbringen als in der Ukraine, nur noch mit dem Köper hier, zum Beispiel beim UCI Mountainbike Weltcup in Tailfingen. Mit dem Kopf sind sie bei der Familie daheim. Maxyms Eltern leben im Osten des Landes, aber wenigstens in einem kleinen Dorf: Für russische Bombenangriffe "nicht so interessant", sagt er bitter. Sein Bruder und sein Cousin, die vorher ganz normale Berufe hatten, sind jetzt in der Armee, wollen ihre Familien und ihre Häuser verteidigen. Hätte auch er gehen sollen? Natürlich hat Maxim sich das gefragt, doch beim Olympischen Komitee haben sie ihm geraten: Mach Deinen Job! Und sprich mit den Menschen!

"Ich verstehe diesen Krieg nicht"

Das tut Maxym frank und frei, bekommt dabei immer wieder feuchte Augen. Wie schwer ihm ums Herz ist, ist ihm anzumerken. Auch wenn die Sonne vom Himmel lacht, Gute-Laune-Musik aus den Boxen im Fahrerlager klingt, alle gut drauf sind. "In der Ukraine gibt es kein Öl zu holen, wir sind ein Agrarstaat", sagt er und fügt hinzu: "Ich verstehe diesen Krieg nicht – im 21. Jahrhundert!" Die Welt sieht er heute „mit ganz anderen Augen“ als noch vor wenigen Wochen. Da würden ganze Städte zerstört, Menschen harrten seit Wochen in Kellern aus, müssten sterben. Wofür? Wenn er an Mariupol und an das Stahlwerk Asow denkt, wo sich Menschen – darunter auch Kinder – seit 70 Tagen verschanzen, schüttelt er fassungslos den Kopf. "Die sind so stark, mental", betont er. "Aber da wird eine ganze Generation von Kindern gebrochen." Auch mit den Alten fühlt er – jenen, die noch den Zweiten Weltkrieg durchgemacht haben und nun ein schreckliches Deja-vue erleben.

Wenigstens seien seine Landsleute motiviert, ihre Heimat und ihre Freiheit zu verteidigen. Was vor allem an Präsident Wolodymyr Selenskyj liege, vor dem Maxym verbal den Hut zieht: Am Anfang habe man nicht so recht gewusst, was von ihm, dem früheren Schauspieler, zu erwarten sei. "Aber in dieser Situation ist er wirklich stark." Die USA hätten angeboten, ihn herauszuholen, doch er sei geblieben: „Wir haben einen guten Anführer – und das gilt auch für die Menschen um ihn herum."

Das Band zu den "Brüdern" ist zerschnitten

Auch Maxym Gavrylenko und seine Frau wissen ein gutes Team an ihrer Seite. Gemeinsam helfen sie einigen jugendlichen Athleten aus der Ukraine, Teenagern, die kein Haus mehr haben, deren Mütter auf der Flucht sind, haben im slowenischen und im österreichischen Verband Unterstützer gefunden, die dafür sorgten, dass die 16-Jährigen Unterhalt und ein Dach über dem Kopf haben – und ihren Sport betreiben können. Auch die weltweite Unterstützung für sein Land berührt Maxym Gavrylenko tief: "Es ist gut, zu sehen, wie die Welt zusammenrückt", sagt er. Das Band mit dem einst so genannten „Brudervolk“ sieht er freilich als zerschnitten an: "Wir denken nicht wie die Russen – wir fühlen uns der Europäischen Union nahe", betont Maxym. "Ein Zusammenleben ist nicht mehr möglich."

Amerikanische Solidarität

Was können die Menschen tun, die sich der Ukraine in dieser schweren Zeit so nahe fühlen? "Helft den Helfern", sagt Maxym Gavrylenko. "Aber vor allem müssen wir diesen Krieg stoppen! Alle, die eine Stimme haben – bekannte Persönlichkeiten, Menschen mit Einfluss – sollten ihre Stimme erheben und sagen: Stoppt den Krieg!" Das ganz normale Leben, das dürfe indes nicht zum Erliegen kommen. "Die Wirtschaft muss laufen, wir müssen wieder zurückfinden zu einem ganz normalen Leben." Die Ukrainer wollten nicht gehen, sich woanders ein neues Leben aufbauen – auch jene nicht, die jetzt auf der Flucht seien. "Wir wollen nicht weg, wollen unser Land wieder aufbauen", sagt er entschlossen.

Das gilt auch für ihn, wenngleich er und seine Frau mit dem Team "American Eagle", den amerikanischen Adlern, die ein Bike blau-gelb lackiert und mit dem Appell "Stand with Ukraine" versehen haben, einen Großteil des Jahres um die Welt fliegen. Physisch sind sie gerade in Tailfingen, wo die Sonne scheint. Mit dem Herzen jedoch sind sie in der Ukraine. Bei ihren Familien. Und hoffen, dass die auch morgen wieder ans Telefon gehen.