Verstehen sich gut: Lehrherr Sebastian Wagner und Azubi Rochd Sbaoui Foto: Kistner

Dass Deutschland Fachkräfte aus dem Ausland braucht, ist mittlerweile eine Binsenweisheit – in Zukunft wird es aber auch einen Teil seiner Auszubildenden importieren müssen. Eine Albstädter Firma geht mit gutem Beispiel voran.

Albstadt-Tailfingen - Rochd Sbaoui landete am 30. August 2022 auf dem Memminger Flughafen. Er kam aus Casablanca, war in Malaga umgestiegen und meinte, den anstrengendsten Teil seiner Reise hinter sich zu haben. So kann man sich irren: Rochd kannte die Deutsche Bahn noch nicht. Fünfmal musste er auf der Fahrt von Bayerisch Schwaben nach Ebingen umsteigen; dass er sein Ziel am Ende wohlbehalten erreichte, verdankte er neben bemerkenswert guten Deutschkenntnissen der Fürsorge zweier älterer Damen, die den gleichen Weg hatten wir er. Zum Dank trug er ihnen die Koffer; in Marokko macht man das so. Dass alle deutschen Altersgenossen von Rochd – er ist 30 – es ebenso gehalten hätten, darf bezweifelt werden.

Zwei Tage später trat der junge Marokkaner seine Lehrstelle bei der Firma Wagner Glas- und Metallbau an. Diesmal hatte er das Fahrrad als Fortbewegungsmittel gewählt und musste prompt feststellen, dass die Unternehmenszentrale auf Langenwand nicht unbedingt zentral liegt und der Weg dorthin mit stetigen Anstiegen und ein, zwei bösartigen Bergwertungen gepflastert ist. Die Orientierung fiel noch schwerer als auf der Bahnreise; am Ende fand sich Rochd im deutschen Wald wieder, fern von seiner Lehrstelle. Er musste bei Wagner anrufen und sich "retten" lassen.

Energie und Organisationstalent

Immerhin, die wenigsten gelangen so weit wie er. Rochd Sbaoui hat auf dem Weg nach Langenwand Qualitäten an den Tag gelegt, nach denen sich deutsche Arbeitgeber die Finger schlecken: Energie, Intelligenz, Organisationstalent, Flexibilität, Zähigkeit. Mitte Juni 2022 war bei der Firma Wagner eine E-Mail eines unbekannten marokkanischen Absenders eingegangen, deren Anhang Firmenchef Roland Wagner und sein Neffe Sebastian nach kurzem Zögern öffneten. So erfuhren sie, dass ein 30-jähriger Marokkaner mit abgeschlossenem Bachelorstudium der Physik und Mechanik und vier Jahren Berufspraxis als Berater bei einem französischen Dienstleistungsunternehmen auf der Suche nach einer handfesteren Tätigkeit war und bei ihnen in die Lehre gehen wollte.

Zwei von 30 waren gesprächsbereit

Woher er wusste, dass Wagner Glas- und Metallbau Lehrlinge suchte? Rochd Sbaoui hat in Marokko Deutsch gelernt – Standard B1 – und danach systematisch die App der baden-württembergischen Arbeitsagenturen mit den Listen der gemeldeten Ausbildungsplatzvakanzen durchforstet. Wieso Baden-Württemberg? Ganz einfach, weil das Lohnniveau höher und das Stellenangebot größer ist als etwa in Schleswig-Holstein. 30 der aufgeführten Firmen schrieb Rochd an, einige antworteten gar nicht, andere lehnten dankend ab und wünschten viel Glück für die Zukunft – und immerhin zwei ließen sich auf ein Teams-Gespräch ein, ein Unternehmen aus Geisingen am Bodensee und eines aus Albstadt. Danach waren die Herren Wagner und Rochd Sbaoui sich einig, dass sie es miteinander versuchen wollten.

An alles hatte er gedacht

Was besonderen Eindruck auf die Albstädter machte, war das methodische Vorgehen ihres neuen Mitarbeiters in spe. Er hatte an alles gedacht: den Ausbildungsvertrag der Handwerkskammer, präzise Informationen zum weiteren Vorgehen – es bedurfte einer Vorabzustimmung der Arbeitsagentur Balingen und des grünen Lichts der Ausländerbehörde im Rathaus Albstadt – "die war sehr kooperativ", versichert Roland Wagner – an die Berufsschulpflicht und sogar an eine Unterkunft: Die App, die – in Ebingen – zum Erfolg führte, hieß "WG-gesucht".

Noch fiel kein Meister vom Himmel

Anfang September, siehe oben, war es dann so weit. Seither sind fünf Monate vergangen, in denen die Firma Wagner ihre Entscheidung nie bereut hat. Und Rochd Sbaoui? Tut sich naturgemäß nicht ganz leicht damit, Kontakte zu knüpfen – und zwar nicht nur, weil in Albstadt ein etwas anderes Deutsch gesprochen wird als das, das er in Marokko gelernt hat. Abends und an den Wochenenden wird ihm die Zeit manchmal lang, und das Heimweh meldet sich; einem Tailfinger in Casablanca würde es nicht anders gehen. Immerhin, er hat über seinen Vermieter Anschluss an eine Freizeitkickerrunde gefunden, er ist Mitglied im Fitnessclub, und einen Landsmann, der seit sechs Jahren in der Gegend lebt, hat er auch schon kennen gelernt. Die Berufsschule fällt ihm relativ leicht, vor allem Physik und Mathematik, seine einstigen Studienfächer, und im Betrieb findet er sich gut zurecht – dass noch kein Meister vom Himmel gefallen ist, versteht sich von selbst. Die Wagners hoffen jedenfalls, dass ihnen dieser Mitarbeiter noch möglichst lange erhalten bleibt.